Inklusions-Pegel August 2020
Ausgabe Nr. 8
Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!
Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.
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Ihr mittendrin e.V.
Wie krisenfest ist unser Förderschulsystem? Seit sich in Deutschland (West) in den 70er Jahren die Haltung durchgesetzt hat, dass auch alle Kinder mit Behinderung ein Recht auf Bildung haben (und nicht nur auf Betreuung), haben wir uns mächtig ins Zeug gelegt, ein flächendeckendes und gut ausgestattetes Schulsystem für diese Kinder aufzubauen. Die Förderschulen sollten nicht nur Lehranstalten sein, sondern ein Schutzraum für besonders schutzbedürftige Kinder, mit besser bezahlten Lehrer*innen, Rundum-Betreuung, qualifizierter Förderung, Therapien und Schülertransport. Kein anderes Land der Erde hat Vergleichbares geschaffen.
Wir haben uns so engagiert dieser Aufgabe gewidmet, dass wir Zweifel nicht hören wollten. Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Trennung von Kindern mit und ohne Behinderung, wie sie die UNESCO schon in den 80er Jahren äußerte. Dabei war die Frage immer schon berechtigt, wie etwa Schüler*innen mit Verhaltensproblemen diese ausgerechnet in Klassen und Schulen überwinden sollten, in denen alle anderen Schüler*innen ebenfalls Verhaltensprobleme haben. Oder wie Kinder mit geistiger Behinderung lernen sollen, in unserer Gesellschaft zurecht zu kommen, wenn man sie ausgerechnet in der Kinder- und Jugendzeit von täglichen Erfahrungen in eben dieser Gesellschaft fernhält.
Die Corona-Krise legt nun die Schwächen des Organisationsprinzips Förderschule offen. Wir fahren Kinder mit Behinderung täglich in kleinen Bussen über Dutzende Kilometer in eine Förderschule. Dies geschieht nicht zum Wohl der Kinder, sondern weil es effizienter erscheint, die behindertengerechte Ausstattung und die Fachkräfte geballt an einem Ort einzusetzen, als sie den betroffenen Kindern an der Schule in ihrem Wohnort anzubieten. In der Infektionskrise werden die langen Fahrten im engen Schulbus zum großen Problem.
Wir entdecken nun auch, dass wir in Förderschulen künstlich Gemeinschaften zusammengesetzt haben, in denen ausgerechnet besonders viele durch die Infektion besonders gefährdete Schüler*innen gemeinsam beschult werden. Und dort wiederum auf besonders viele Mitschüler*innen treffen, die behinderungsbedingt keinen Mund-Nasen-Schutz tragen oder andere Regeln des Infektionsschutzes einhalten können. Was als Schutzraum gedacht war, wird zu einem Ort, an dem Schutz besonders schwer zu organisieren ist.
Die Themen im August
Halbzeit
Drei Jahre ist es her, dass in NRW eine neue Landesregierung angetreten ist, um alle Förderschulen zu erhalten und gleichzeitig in der Inklusion alles besser zu machen. Als Halbzeitbilanz hat die Opposition im Landtag eine Anhörung erwirkt. Wir vom mittendrin e.V. waren als Sachverständige geladen und resümieren eine Zeit, in der es eher zurück ging als voran:.
Stellungnahme zur schulpolitischen Halbzeitbilanz
mittendrin e.V. / Landtag NRW / 10.08.2020
Förderschule und Corona I
Seit Jahrzehnten gehört zur Förderschule untrennbar der Fahrdienst. Der Schulbus vor der Haustür ist sogar immer ein wesentliches Argument gewesen, dass Eltern ihre Kinder an weit entfernten Förderschulen anmelden. Corona macht auch hier einen Strich durch die Rechnung. Oder ist es eher eine phlegmatische Verwaltung, die das Bildungsrecht von Schüler*innen mit Behinderung im Zweifel als nachrangig einordnet? Schüler*innen, die keinen Mund-Nasen-Schutz tragen können, werden jetzt vom Schülertransport ausgeschlossen:
Schüler vom Transport zur Schule ausgeschlossen
bildungsklick / 26.08.2020
Auf die Kritik der Elternverbände und die folgende Berichterstattung hat der Landschaftsverband Rheinland mit einer Pressemitteilung reagiert. Was meinen Sie, wie der Text bei betroffenen Familien ankommt?
Schülerspezialverkehr: „LVR schließt niemanden von der Beschulung aus und prüft alle Möglichkeiten der Beförderung!“
LVR / 26.08.2020
Förderschule und Corona II
Wenn schon der Landschaftsverband Rheinland, der sich immer als Lobby von Menschen mit Behinderung versteht, einen Teil seiner Schüler*innen vom Fahrdienst ausschließt, lehnen sich manche Kommunen erst recht zurück. Hier ein Beispiel aus Viersen…
Eltern der Förderschule kritisieren Kreisverwaltung
Martin Röse / RP Online / 23.08.2020
… und hier ein Beispiel aus Bonn:
Neunjähriger darf trotz Attest ohne Maske nicht in Schulbus
Gabriele Immenkeppel / General-Anzeiger / 19.08.2020
Wissenschaft I
Pandemien sind Diskriminierungsverstärker und gute Gelegenheiten zu messen, wie dick oder dünn das Eis der Zivilisation ist. Eine Studie aus dem Corona-Hotspot Tirschenreuth:
Tirschenreuth: Studie zum Leben von Menschen mit Behinderung im Corona-Lockdown
otv / 06.08.2020
Wissenschaft II
Schier unerschütterlich scheint der Glaube der Schulpolitik an die Qualität sonderpädagogischer Diagnosen. Wie es um die wissenschaftlichen Standards der Verfahren bestellt ist, haben Wissenschaftler anhand eines Vergleichs dreier Schulamtsbezirke in Nordrhein-Westfalen untersucht:
Kategorisierung untergräbt Inklusion
Dr. Brigitte Schumann / Bizeps / 13.08.2020
Elternpower
Seit 35 Jahren kämpfen Eltern in Deutschland dafür, dass ihre behinderten Kinder allgemeine Schulen besuchen dürfen. Zu den Pfeilern der Bewegung in Nordrhein-Westfalen gehört der Verein Igll in Neuss:
Verein mit 150 Mitgliedern
Carsten Pfarr / NGZ online / 07.08.2020
Kindermund
Wenn Erwachsene über Inklusion in der Schule reden, klingt das meist wie eine tonnenschwere Last. Kinder halten es dagegen für das Normalste der Welt, dass es gut ist, wenn alle dabei sein dürfen…
Kinder lernen ihre Rechte kennen
Susann Krüll / Westdeutsche Zeitung / 03.08.2020
Bürokratie
… während Schulbürokraten monatelang Probleme wälzen, bevor sie sich durchringen, ein Kind die Grundschule am Wohnort besuchen zu lassen:
Einigung erreicht: Ida aus Linkenheim geht mit ihren Freundinnen in die Grundschule
Dietrich Hendel / bnn / 27.08.2020
Zum Artikel (Paywall)
Moderne Bildung
Inklusion in Sachsen ist eher ein Widerspruch. Nun gibt es eine gute Nachricht: Die neue Universitätsschule Dresden nennt sich inklusiv und nimmt wirklich Schüler*innen mit Behinderung auf. Hat sie uns am Telefon bestätigt. Wenn unsere Abonnent*innen aus Sachsen das bestätigen können oder andere Informationen haben, freuen wir uns auf Informationen in der Kommentarspalte des Inklusions-Pegels.
Universitätsschule Dresden läuft: Konzept funktioniert
sueddeutsche / 16.08.2020
Bettelstatus
Das Land Berlin versucht, Schulhelferkosten auf die Krankenkassen abzuwälzen. Die Leidtragenden sind die Schüler*innen mit Diabetes und ihre Familien:
Kinder mit Diabetes finden häufig keine Schulhelfer mehr
tagesspiegel / 24.08.2020
Unterstützung
Niedersachsen baut regionale Unterstützungszentren auf und will den Aufbau der Inklusion in den Schulen nun ambulant unterstützen.
Inklusion vor Ort: Auch in Salzgitter und Gifhorn starten Unterstützungszentren
regionalHeute/ 12.08.2020
Geisterfahrer
Wie andere Landesregierungen auch, ist die bayerische gern stolz auf ihre steigenden „Inklusionszahlen“. Schaut man sich die Zahlen genau an, bleibt dazu wenig Anlass:
Auf der Gegenspur
Prof. em. Dr. Hans Wocken / 28.08.2020
Lehrer*innenbildung
An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg treten jetzt Bildungsfachkräfte mit geistiger Behinderung ihren Dienst an. Sie sollen Student*innen aus erster Hand über das Leben mit Behinderung schulen.
Menschen mit geistiger Behinderung werden PH-Dozenten
Rhein-Necker-Zeitung / 26.08.2020
Inklusionskongress
Ab dem 11. September 2020 werden noch einmal alle 31 Interviews des 2. Online-Inklusionskongresses freigeschaltet - für alle diejenigen, die aufgrund der Schulschließungen im März nicht teilnehmen konnten. Zusätzlich finden drei Live-Interviews statt, bei denen die Kongressteilnehmer*innen Fragen stellen können: Im Gespräch mit Raul Krauthausen wird es um Engagement für und die verschiedenen Perspektiven auf Inklusion gehen, Ines Boban und Andreas Hinz sprechen über das ideale Schulsystem und die Rechtsanwältin Anneliese Quack (die u.a. den "Fall Nenad" in NRW vertreten hat) spricht über das Thema Recht und Inklusion. Weitere Informationen und kostenfreie Anmeldung auf
Neuer Termin für den 2. Online-Inklusionskongress: 11. bis 19. September 2020
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