Inklusions-Pegel Januar 2021
Ausgabe Nr. 13
Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!
Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.
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Ihr mittendrin e.V.
Wenn in der deutschen Schulpolitik von Vielfalt die Rede ist, geht es meistens nicht um Menschen, sondern um Schulformen. Was internationale Beobachterinnen* für das reine Chaos halten, schmücken viele deutsche Schulpolitikerinnen* mit dem Prädikat „begabungsgerecht“: Unter all den Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien, Gesamtschulen, Werkrealschulen, Oberschulen, Sekundarschulen und vor allem den sieben verschiedenen Sonderschulformen lasse sich schließlich für jede Schülerin* der passende beste Lernort finden.
Wie diese Logik sich im Einzelnen entfaltet, habe ich kürzlich im NRW-Landtag gehört. Da pries ein Sachverständiger, wie vorteilhaft es sei, wenn ein Kind erst einmal zwei Jahre eine Förderschule besuchen könne, damit es dort für die Grundschule „fit gemacht“ werden kann. Erst habe ich den Ausführungen staunend zugehört. Dann setzte sich hartnäckig das Wort „Stückgut“ in meinem Kopf fest.
Ich meine, betrachten Sie dieses Beschulungskonzept doch einmal aus der Sicht des Kindes! Der kleine Fritz darf also am ersten Schultag nicht gemeinsam mit seinen Kindergartenkumpels die Schultüten zur Grundschule tragen. Stattdessen wird er in einen Schulbus gesetzt und kilometerweit zu einer anderen Schule gefahren, in der er niemanden kennt. Zwei Jahre später dann das ähnliche Spiel: Trennung von den neuen Schulfreundinnen* und Lehrerinnen* und kompletter sozialer Neubeginn in der Regelschule: mit neuen Lehrerinnen*, einem völlig anderen Schulklima und mit Kindern, die er nicht kennt oder die über die vergangenen zwei Jahre fremd geworden sind und im Zweifel skeptisch darauf reagieren, dass der Fritz auf einmal wieder da ist und fragen, wo er zwischenzeitlich eigentlich gewesen ist.
Das Konstrukt des passenden Förderortes entlarvt sich in der Praxis allzu oft als Konstrukt des unpassenden Kindes: Sie lesen in dieser Ausgabe des Inklusions-Pegel von der als inklusiv geltenden Schule, die ein Kind mit Trisomie 21 als unpassend ablehnt und von der Geistigbehindertenschule, die einen Schüler wegen autistischer Züge loswerden will. Und sie lesen von einer rundum begabten Schülerin, die am Gymnasium unpassend erscheint, weil sie in einem einzigen Fach weniger Leistung bringt: in Mathe. In all diesen Fällen empfiehlt die Schule, für das Kind einen passenderen Lernort zu finden. Nur, welcher soll das sein?
Vielleicht sollten wir uns erinnern, in der Schule vor Ort ebenso wie in der Schulpolitik, für wen Schule eigentlich da ist: für Kinder. Und zwar für diejenigen Kinder, die da sind. Nicht für die, die man sich wünscht.
Die Themen im Januar
Konzepte in der Pandemie I
Im ersten Jahr der Pandemie haben Deutschlands Kultusministerinnen* versucht, dem Virus möglichst viel Unterricht nach Stundenplan abzutrotzen, und sei es mit Masken und bei geöffneten Fenstern. Jetzt mehren sich die Zweifel, ob dies der beste Weg ist, Bildung auch unter schwierigen Bedingungen zu gewährleisten.
Schule muss scheitern, wenn sie den Normalzustand simuliert
Jöran Muus-Merholz / Jöran und Konsorten / 14.01.2021
Konzepte in der Pandemie II
Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat eine Expertenkommission gebeten, über ein gerechtes und gesellschaftlich sinnvolles Konzept von Schule unter Pandemiebedingungen zu beraten. Auch hier ist der Rat: Wir können mehr erreichen, wenn wir uns von Routinen lösen und vor allem verhindern, dass benachteiligte Schülerinnen* noch weiter abgehängt werden.
Studie zu Schulschließungen
Was wir jetzt für mehr Chancengleichheit tun müssten
Silke Fokken / Spiegel / 22.01.2021
Konzepte in der Pandemie III
Viele Förderschulen scheitern am Distanzlernen, und das liegt auch an völlig veralteten Lehrplänen für Schülerinnen* vor allem mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Österreich zieht daraus die Konsequenz und erlaubt Sonderschulen Ausnahmen vom Lockdown, wenn Schülerinnen* anders nicht erreicht werden.
Grebien: Gute Lösung für Sonderschulen im Lockdown
bizeps / 22.01.2021
… und die Praxis I:
In Deutschland, genauer: in Baden-Württemberg, setzen Sonderschullehrerinnen* andere Prioritäten: Sie streiten nicht, um Schülerinnen* mit Schwierigkeiten früher wieder in die Schule zu holen. Sie möchten im Gegenteil die Befugnis, einzelne Schülerinnen* aus Infektionsschutzgründen vom Unterricht auszuschließen.
Präsenzunterricht erfordert klare Kriterien – und die sind (noch) nicht erfüllt
Michael Hirn / GEW / 07.01.2021
… und die Praxis II
Und so geht die gesteigerte Misere behinderter Schülerinnen* in Corona-Zeiten ins zweite Jahr. Selbst für Diejenigen, die eine Förderschule besuchen, die die Fortführung des Unterrichts auf Distanz besonders ernst nimmt.
Die vergessenen Kinder
Linda Gerner / taz / 19.01.2021
Unpassendes Kind I: Inklusive Schule
Es ist eine Geschichte, die sich so oder sehr ähnlich derzeit überall in Deutschland abspielt: Moritz möchte zusammen mit seinen Klassenkameradinnen* von der Grundschule auf die Oberschule in Falkensee wechseln. Kein Problem, sollte man denken – auch wenn Moritz mit einer Trisomie 21 lebt. Schließlich ist die Oberschule Falkensee eine inklusive Schule. Tja. Aber leider ist die „inklusive“ Schule nur inklusiv für Schülerinnen* ohne geistige Behinderung. Soll er halt eine weiter entfernte Schule besuchen. Die lehnt zunächst ebenfalls ab mit der Begründung, sie sei gerade mit Umstrukturierungen beschäftigt. So entfaltet sich monatelang ein unwürdiges Spektakel. Letztlich unter Verantwortung der inzwischen zur Präsidentin der Kultusministerkonferenz berufenen Schulministerin Britta Ernst.
Die Entscheidung ist gefallen: Auf diese Schule geht Moritz Herkel
Märkische Allgemeine / 20.01.2021
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Unpassendes Kind 2: Förderschule
Immer wenn Deutschland für die schleppende Umsetzung der inklusiven Bildung kritisiert wird, kommt die Entgegnung, dass Inklusion halt nicht für jedes Kind möglich sei. Die Förderschulen dagegen stellten sicher, dass immerhin alle Kinder gut beschult würden. Aber stimmt das?
„Wie behindert darf man sein, um eine Förderschule besuchen zu können?“
Ellas Blog / 05.02.2020
Unpassendes Kind 3: Gymnasium
Das Komische am Sortierprinzip des deutschen Schulsystems ist die Unterstellung, dass Schülerinnen* entweder in allen Unterrichtsfächern besonders leistungsfähig oder eben in allen Fächern weniger leistungsfähig seien. Was jeder Lebenserfahrung widerspricht und besondere Begabungen nicht fördert, sondern aufs Mittelmaß herunterstutzt.
Mit Rechenschwäche auf ein Gymnasium?
Sonia Heldt / FAZ / 30.12.2020
Sonderschule
Seit zehn Jahren besteht das Land Bayern darauf, einen irgendwie eigenen Weg zur Inklusion zu gehen. Dass es ein schlechter Weg ist, zeigt die Statistik. In Bayern gehen heute mehr Schülerinnen* auf Sonderschulen als zu Beginn der „inklusiven“ Entwicklung. Statt Inklusion erfolgreich zu machen, werden jetzt sogar verstärkt neue Sonderschulen gebaut, zum Beispiel im Landkreis Aichach-Friedberg. Der Verband Inklusion Bayern e.V. fordert die Kehrtwende:
Presseerklärung von Inklusion Bayern e.V. zum Internationalen Tag der Menschenrechte
Netzwerk Inklusion Bayern / 10.12.2020
Inklusionsdebatte I
Baden-Württemberg gehört zu den Bundesländern mit der niedrigsten Inklusionsquote. Warum das so ist und wie man es besser machen könnte, diskutiert der Südwestrundfunk:
Das Ende der Förderschule: Wie geht gute Inklusion?
Franziska Hochwald / SWR2 /
Inklusionsdebatte II
Die oft bleischwere Debatte um inklusive Bildung könnte deutlich entspannter werden, wenn man öfter mal diejenigen fragte, um die es geht. Der ehemalige „Inklusionsschüler“ Raúl Krauthausen über die Dinge, die für ihn in seiner Schulzeit wirklich wichtig waren.
Fragebogen "Alte Schule": Raul Krauthausen
sueddeutsche / 27.12.2020
Schulentwicklung I
Wer inklusive Bildung verbessern will, muss wissen, wie es an den Schulen wirklich läuft. Der Landkreis Leipzig sucht nach Erfahrungsberichten.
Inklusion an Schulen – wo sie gelingt und woran sie scheitert – Wurzener AG Inklusion sucht Erfahrungsberichte
Sylke Mathiebe / medienportal grimma / 28.01.2021
Schulentwicklung II
Ohne besondere überregionale Aufmerksamkeit verfolgt der Kreis Mettmann in Nordrhein-Westfalen die Verbesserung seiner inklusiven Schulen. Jetzt wurden einige besonders erfolgreiche Schulen ausgezeichnet:
Inklusions-Zertifikat für die Grundschule Bollenberg
rp-online / 04.01.2021
Schulentwicklung III
In Wismar können Schülerinnen* jetzt nicht mehr nur am Gymnasium Abitur machen, sondern auch an der Gesamtschule. Verdanken können sie das der Inklusion. Denn offenbar wird die inklusive Goethe-Gesamtschule die erste und einzige Schule rund um Wismar sein, in der auch Schülerinnen* mit Behinderung die Hochschulreife erwerben können. Was offensichtlich überfällig war. Wir wissen nicht, ob die beiden Wismarer Gymnasien sich jetzt ärgern, die Inklusion mit allzu spitzen Fingern angefasst zu haben. Im Ergebnis ist die Alleinstellung „Abitur“ jetzt jedenfalls futsch.
So wird an der Wismarer Goethe-Gesamtschule endlich das Abitur möglich
ostsee-zeitung / 22.12.2020
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Schulentwicklung IV
Um den Rechtsanspruch der Schülerinnen* mit Behinderung zu verwirklichen, hat die Bezirksregierung die Stadt Bad Oeynhausen aufgefordert, gemeinsam möglichst alle weiterführenden Schulen zu "Orten gemeinsamen Lernens" zu machen. Jetzt wird im Stadtrat nachgehakt – interessanterweise vom Ratsherrn der FDP.
Inklusion wird für alle Schulen ein Thema
Jörg Stuke / Neue Westfälische / 20.12.2020
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Schulentwicklung V
Schon seit Jahren möchte die Stadt Gießen Modellregion für inklusive Bildung werden. Aber wie soll das gehen, wenn wichtige Akteure der Stadtpolitik gegen jede Änderung bei den Förderschulen Sturm laufen?
Es bleibt bei zwei Förderschulen in Gießen
Benjamin Lemper / mittelhessen / 18.01.2021
Schulentwicklung VI
Galt früher und gilt bis heute: Fortschritte bei der Inklusion gibt es immer dort, wo sich engagierte Eltern dahinterklemmen. Im nordrhein-westfälischen Haan ist die Familie Elker seit einem Vierteljahrhundert in der Bewegung Gemeinsam leben – Gemeinsam lernen aktiv.
„Wir hatten immer Engel an unserer Seite“
rp-online / 24.12.2020
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Umgekehrte Inklusion
Schon im Inklusions-Pegel vom Oktober haben wir von der Werner-Vogel-Schule in Leipzig berichtet, die sie als Geistigbehindertenschule in einigen Klassen geöffnet hat und jetzt auch Schülerinnen* ohne Behinderung unterrichtet. Sie ist nicht die einzige in Deutschland. Und immer wieder sind es herzerwärmende Geschichten vom guten Zusammenleben. Die Entwicklung ist immer so lange schön anzusehen, wie sie nicht als vermeintlicher Königsweg für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im deutschen Schulwesen propagiert wird. Denn letztlich wird für die Inklusion von Kindern mit Behinderung nicht viel gewonnen sein, wenn sie in Zukunft mit dem Spezial-Schulbus kilometerweit in die „Inklusion“ gefahren werden, weil die Schule am Ort ihnen immer noch die Tür versperrt.
Inklusion mal andersrum
Edeltraud Rattenhuber / sueddeusche / 27.12.2020
Bewusstseinsbildung I
Auch zehn Jahre nach Beginn der inklusiven Entwicklung wird flächendeckend wenig dafür getan, über Inklusion an Schulen zu informieren und ihren gesellschaftlichen Sinn zu erklären. Hier ein Anfang:
Inklusion an Schulen: Neue Fortbildungsreihe für Eltern und Lehrer
Kreis-Anzeiger/ 25.01.2021
Bewusstseinsbildung II
In privater Initiative findet im März zum dritten Mal ein umfangreicher Online-Kongress zur schulischen Inklusion statt. Die Anmeldefrist läuft.
3. kostenloser Online-Inklusionskongress vom 12. bis 18. März – jetzt anmelden!
news4teachers / 19.01.2021
Kinder mit Trisomie 21
Die meisten Menschen in Deutschland kennen gar keine Menschen mit Trisomie 21. Trotzdem sieht die Mehrheit in ihnen das gesellschaftlich geltende Symbol für den GAU beim Kinderkriegen. So groß ist die Angst vor dem Zusatzchromosom beim Kind, dass wir kurz davor sind, die vorgeburtliche Suche nach ihnen von der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten finanzieren zu lassen. Auch hier bleibt es allein den Eltern überlassen, gegen gesellschaftliche Zerrbilder anzuarbeiten.
„Ich weiß, wie du dich fühlst“
Julia Dettmer / FAZ / 24.01.2021
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