Inklusions-Pegel Juni 2022
Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!
Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.
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Ihr mittendrin e.V.
„Die Zukunft ist auch eine Frage korrekter Wortwahl“, schreibt der Kolumnist Stefan Locke in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Fraktur: Schwurbelei statt klarer Worte“, gesehen am 24.6.2022). Der Mann hat vermutlich Recht. Denn wie soll Zukunft gestaltet werden – nichts anderes ist übrigens Aufgabe von Politik – wenn schon der Zustand der Gegenwart nicht mehr klar benannt, sondern durch Wortungetüme und Sprachkosmetik versteckt und verschleiert wird?
Zu den Mitteln der Welt- und Faktenverdreherinnen* gehört auch die Verdrehung und Umdeutung von Begriffen. Diejenigen, die solche Umdeutungen betreiben, haben stets Böses im Sinn. Sie wollen manipulieren. Wie gefährlich dies für Freiheit und Demokratie ist, hat vor vielen Jahren ein gewisser Aldous Huxley in einem Roman ausgemalt. Er nannte ihn „Schöne neue Welt“ und diese schöne Welt war eine brutale Diktatur, die ihre Herrschaft perfekt sicherte, indem sie mittels Verdrehung von Sprache die Seelen der Menschen zerstörte und jegliche Opposition unvorstellbar machte.
Kommt eine solche Umdeutung von Begriffen jetzt auch in der Schulpolitik an? Dort ist eine neue Sprachformel aufgetaucht, die so genannte „inklusive Bildung in Förderschulen“. Ihr Gebrauch nimmt zu, und in Nordrhein-Westfalen hat die Formel es sogar ins schwarz-grüne Sondierungspapier geschafft.
Natürlich kann inklusive Bildung niemals in Förderschulen stattfinden. Sind doch diese Schulen exakt die Verkörperung des Gegenteils, nämlich der Trennung von Schülerinnen*gruppen und ihrer Herausnahme aus der örtlichen Gemeinschaft. Förderschulen als inklusiv zu benennen, ist also eine klare Lüge. Diese fein zu streuen, ist erkennbar Kalkül. Das funktioniert wie bei Verschwörungstheorien: Was oft genug gesagt und hier sogar in schulpolitische Papiere geschrieben wird, wird wohl stimmen.
Dahinter steht nicht nur die Absicht, das Förderschulsystem in vollem Umfang zu erhalten und die inklusive Entwicklung auszubremsen. Dahinter steht die Absicht, die Forderung nach inklusiver Bildung für erledigt zu erklären. Gegen die Sprachverdreherinnen* gibt es nur ein Mittel: Man darf sie mit ihrer schönen neuen Sprachschöpfung nicht durchkommen lassen, nicht ein einziges Mal!
Die Themen im Juni
Koalitionsvertrag 1
Koalitionsverträge sind eigenartige Dokumente. Meist werden dort Dinge zusammengeschrieben, die in völlig entgegengesetzte Richtungen weisen. Die Verhandlerinnen* der kommenden NRW-Landesregierung haben es bei der inklusiven Bildung zumindest geschafft, sich im ersten Satz auf ein politisches Bekenntnis zu einigen. Danach folgt ein Potpourri von seltsam unverbundenen Einzelvorhaben. Wie die Politik der kommenden fünf Jahre aussehen wird, hängt vollkommen von der noch nicht bekannten Schulministerin* ab.
Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen
GRÜNE NRW
Koalitionsvertrag 2
Die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW blickt auf Basis des Koalitionsvertrags „positiv gespannt“ auf die Schulpolitik der kommenden fünf Jahre. Am wichtigsten ist ihr die Aussicht, dass ihre Kinder bis zum Abitur keinerlei Kompetenzen für eine inklusive Gesellschaft erwerben können und später als Erwachsene genau wie ihre Eltern Unsicherheit und Unbehagen verspüren, wenn sie Menschen mit Behinderung begegnen. Naja, seine* Eltern kann man* sich nicht aussuchen.
Parallelstart in die Ferien und die Koalition
Landeselternschaft der Gymnasien und Nordrhein-Westfalen e.V.
Koalitionsvertrag 3
Auch in Schleswig-Holstein liefert eine schwarz-grüne Verhandlungsgruppe zur geplanten Politik für inklusive Bildung nur Stückwerk. Auffallend ist: Von einem weiteren auch quantitativen Ausbau ist keine Rede. Offenbar gibt es in Deutschland zur Zeit keine regierungsfähige Partei, die die UN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen tatsächlich umsetzen will.
Ideen verbinden – Chancen nutzen – Schleswig-Holstein gestalten
CDU Schleswig-Holstein
Zahlen
Der zweijährig erscheinende Nationale Bildungsbericht dokumentiert, dass weder die Zahl der Förderschulen noch die der Förderschülerinnen* seit Gültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention substanziell zurückgegangen ist. Das bestimmende Thema ist für die Berichtsgruppe der immer auswegloser erscheinende Personalmangel im Bildungssystem.
Bildung in Deutschland 2022
bildungsbericht
Analyse
Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat sich im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung die neuen Zahlen der Kultusministerkonferenz angesehen. Eindrücklich arbeitet er die fatale Zunahme von Schülerinnen* mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf heraus. Er analysiert die Folgen des hinhaltenden Widerstands vieler Bundesländer bei der Umsetzung der inklusiven Bildung und prognostiziert: Wenn die Politik so bleibt, werden wir bei der Inklusion in den Schulen keine einzigen Schritt mehr vorankommen. Leseempfehlung für Teil 1 und Teil 2!
Inklusion – kein Thema mehr? Wie sieht es eigentlich aktuell mit der Umsetzung der UN-BRK aus?
schule21
Inklusion light
Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern hat einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention veröffentlicht. Das Kapitel zu inklusiver Bildung beschränkt sich auf Vorhaben für die Eingliederung von Kindern mit Lern- und Entwicklungsstörungen. Kinder mit geistigen, körperlichen oder Sinnesbehinderungen – also die eigentliche Zielgruppe der UN-BRK – bleiben außen vor.
Maßnahmenplan 2.0 der Landesregierung M-V zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
regierung-mv.de
Angriff
CDU und FDP im Thüringer Landtag wollen die inklusive Schulpolitik des Landes nicht verbessern, sondern abbrechen. Das zeigt vor allem, dass den sogenannten Christlichen und den sogenannten Liberalen die ganze Richtung nicht passt. Was waren noch einmal Sinn und Ziel von Christentum und Bürgerrechten?
„Rückkehr ins Jahr 1992!“ Hitzige Debatte zum Thema Inklusion in der Schule
Thüringer Allgemeine
Hilfe
Die Berliner Senate der vergangenen 15 Jahre haben die Schulen der Stadt kaputtgespart und die einst bundesweit vorbildliche inklusive Entwicklung ruiniert. Inzwischen gehen die Bürgerinnen* dagegen auf die Straße. Um die Situation zu verbessern, will die Schulsenatorin jetzt Hilfe bei einem Expertinnen*beirat suchen.
Bildungssenatorin beruft Fachbeirat Inklusion ein
berlin.de
Schulentwicklung
Bremerhaven bekommt drei neue Schulen und will die Entwicklung nutzen, um in Kooperation mit der Universität die inklusive Bildung voranzubringen.
Bremerhaven: „Schule wird hier von den Kindern aus gedacht“
nord24
Kosten
Wer über die Kosten inklusiver Bildung stöhnt, hat sich vermutlich noch nie angesehen, wie teuer Exklusion ist. An einer Flensburger Schule für Schülerinnen* mit geistiger Behinderung werden Eltern für zwei Wochen Ferienbetreuung mit 1.100 Euro zur Kasse gebeten. Wie schön wäre es, wenn diese Schülerinnen* ihre Ferien einfach in den Angeboten einer inklusiven Jugendarbeit am Wohnort genießen könnten – wenn es sie denn gäbe.
Eltern auf den Barrikaden: 1100 Euro pro Kind für zwei Wochen Ferienbetreuung
sh:z
Zum Artikel (Paywall)
Konstruktionsfehler
Der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe (CDU) kritisiert das vor zwei Jahren eingeführte Budget für Ausbildung als Fehlkonstruktion. Die Regelung sei so kompliziert und einschränkend, dass das Budget für Menschen mit Behinderung kaum nutzbar sei.
Zugang zur beruflichen Ausbildung für Menschen mit Behinderungen verbessern
kobinet Nachrichten
NoNIPT
Die Bremer Frauenbeauftragte kritisiert, dass der vorgeburtliche Test auf Trisomien jetzt von den Krankenkassen bezahlt wird. In einer gemeinsamen Erklärung mit dem Landesbehindertenbeauftragten befürchtet sie Nachteile sowohl für Frauen als auch für Menschen mit Behinderung.
Der nicht-invasive Pränataltest (NIPT) als Kassenleistung setzt Schwangere unter Druck und ist ethisch problematisch
Senatspressestelle Bremen
NIPT-Tagung
„Der NIPT auf Trisomien als Kassenleistung: selbstbestimmte Entscheidung oder gesellschaftlich erwünschte Selektion?“ Unter diesem Titel veranstaltet das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik in Kooperation mit dem Bündnis #NoNIPT seine Jahrestagung. Die Tagung findet vom 23. – 25. September 2022 im Bildungs- und Begegnungszentrum Clara Sahlberg in Berlin-Wannsee statt.
Den Anstoß zu diesem Tagungsthema gab der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Kostenübernahme für den nicht invasiven Pränataltest (NIPT) durch die gesetzlichen Krankenkassen. Der Test hat keinen medizinischen Nutzen. Er kann nichts heilen, sondern nur feststellen, ob das werdende Kind wahrscheinlich eine Trisomie hat oder nicht. Ab dem 1. Juli 2022 ist der NIPT als Kassenleistung erhältlich.
Es ist ein ethisch und gesellschaftspolitisch umstrittener Beschluss, mit dem sich viele Fragen verbinden. Die Tagung bietet eine Plattform zur Information und Diskussion, zur Vernetzung sowie zur Absprache über künftige Projekte und politische Aktivitäten.
Einladung zur Jahrestagung: „Der NIPT auf Trisomien als Kassenleistung: selbstbestimmte Entscheidung oder gesellschaftlich erwünschte Selektion?“
#NoNIPT und Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik
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