Inklusions-Pegel März 2020
Ausgabe Nr. 3
Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!
Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.
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Ihr mittendrin e.V.
Corona zeigt, wie fremd Menschen mit Behinderung der sogenannten Mitte der Gesellschaft sind. Wie unter einem Brennglas zeigt das Krisenmanagement von Berlin bis in die letzten Verästelungen unserer Gesellschaft die Wirkung der alt hergebrachten diskriminierenden Muster.
Eines dieser Muster ist Ignoranz. Während dem Informationsbedürfnis der besorgten und beunruhigten Bürger mit täglichen Informationsangeboten der Regierungen und der Medien begegnet wird, werden gehörlose Menschen mit ihren Fragen und Ängsten allein gelassen. Regierungsansprachen, Infosendungen, Talkshows – nur die wenigsten setzen Gebärdensprachdolmetscher oder wenigstens Untertitel ein, um existenzielle Informationen auch der gesamten Bevölkerung zugänglich zu machen.
Ebenfalls zum Muster Ignoranz gehört das Nicht-Wahrnehmen besonderer Bedürfnisse und Umstände. Eine Kölner Behinderten-WG, in der ein Bewohner mit Covid-19 diagnostiziert wurde, wird vom Gesundheitsamt unter Quarantäne gestellt. Der Träger soll sich kümmern. Denkt jemand daran, dass die zum Teil vorerkrankten Mitbewohner*innen durch die Infektionsgefahr in genau dieser Quarantäne höchst gefährdet sind? Denkt jemand daran, dass sie zum Teil aufgrund ihrer Behinderung große Schwierigkeiten haben, Schmerzen, Unwohlsein, Krankheit schnell zu identifizieren und deutlich zu äußern? Warum werden derart gefährdete Menschen nicht in stationäre Quarantäne genommen und medizinisch genau beobachtet? Und das zu einem Zeitpunkt, an dem in den Quarantäneabteilungen der Kliniken durchaus noch Platz ist? In der Folge erkrankt eine Mitbewohnerin mit Trisomie 21 und Herzproblemen an Covid-19 und stirbt am 20. März.
Das zweite alt hergebrachte Muster ist professionelle Übergriffigkeit. Während Mitte März in allen Bundesländern die Schulen geschlossen werden, herrscht in einer Reihe von Förderschulen für schwer behinderte Schüler*innen Business as usual und Unterricht nach Plan. In grotesker Fehleinschätzung der epidemischen Lage scheint es Schulleitungen bzw. Schulbehörden offenbar wichtiger, den sogenannten Schutz- und Schonraum Förderschule aufrecht zu erhalten und vor allem die Förder- und Therapie-Routine nicht zu unterbrechen. Die Fixierung auf die Unersetzlichkeit ihrer Arbeit ist so stark, dass es Tage braucht zu erkennen, dass gerade für ihre Schüler*innen die Schule als Infektionsraum besonders gefährlich ist.
Es steht zu befürchten, dass vor allem das dritte Muster namens Mitleid für Menschen mit Behinderung in der Epidemie besonders gefährlich werden kann. Grund für das omnipräsente Mitleid, das Menschen mit Behinderung entgegen gebracht wird, ist die Assoziation von Behinderung mit Leid. Wir scheitern an der Vorstellung, dass ein Leben mit einer Behinderung ein genau so erfülltes Leben sein kann. Es erscheint uns irgendwie weniger wertig. Wir würden es nicht haben wollen und gehen deshalb – zumeist unbewusst – davon aus, dass der Mensch mit Behinderung an seinem Leben nicht im gleichen Maße hängt wie wir.
Die Wirkmächtigkeit solcher Bilder ist gleichzeitig immens und unbewusst. Sie beeinflussen menschliche Entscheidungen und mischen auch dort immer mit, wo vorgeblich völlig rational gehandelt wird. Menschen mit Behinderung kennen diesen Mechanismus und er macht ihnen Angst. Denn wenn Ärzte in Extremsituationen unter Zeitdruck komplizierte und belastende Entscheidungen treffen müssen, ist das gesellschaftliche Bild vom Leid der Behinderung immer präsent. Es kann der letzte Anstoß sein, einem Patienten mit Behinderung knappe Behandlungsressourcen vorzuenthalten und sie statt dessen einem anderen Patienten zuzuteilen. Die Angst von Menschen mit Behinderung, sich bei der Triage hinten anstellen zu müssen, speist sich aus ihrer Lebenserfahrung. Dies nicht ernst zu nehmen, kann tödlich enden.
Über diese Dinge müssen wir nachdenken und sprechen. Der Inklusions-Pegel aus dem Pandemie-Monat März gibt Ihnen anhand mehrerer Beiträge dazu Gelegenheiten.
Die Themen im März
Covid-19 I
Der Fall der zweiten Kölner Covid-19-Toten wirft Fragen auf. Als ihr Herz versagte, wurde sie nicht in die Klinik gebracht. Die Patientenverfügung, die lebenserhaltende Maßnahmen ausschloss, hat sie nicht selbst verfasst.
49-jährige Infizierte stirbt an Herzversagen
rp-online / 20.03.2020 /
Covid-19 II
… und die Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung sind im Krisen-Sozialschutzpaket der Bundesregierung schlicht vergessen worden. Kein medizinisches Personal, keine Schutzausrüstung, keine Verstärkung für die pädagogischen Mitarbeiter*innen, die die Bewohner*innen nach der Schließung der Werkstätten jetzt den ganzen Tag betreuen müssen.
13 Millionen Menschen, einfach übersehen
Süddeutsche Zeitung / Kristiana Ludwig / 30.03.2020
Covid-19 III
Auch der Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen beschäftigt sich in seinem Blog mit dem Kölner Fall: „Dass Menschen mit Behinderung dort leben, wo das öffentliche Bewusstsein seinen blinden Fleck hat, ist uns bekannt. Aber jetzt nervt das nicht nur. Es tötet.“
Schönen Gruß von der #Risikogruppe
www.raul.de / Raul Krauthausen / 25.3.2020
Covid-19 IV
Nach zwei Wochen gesellschaftlichen Ausnahmezustands scharren Viele längst mit den Hufen und fordern, die Beschränkungen schnellst möglich wieder zu lockern. Risikogruppen könnten ja isoliert bleiben. Wie fühlt sich das für Mitglieder eben dieser Risikogruppen an? Ein Blogbeitrag der Wissenschaftlerin Rebecca Mascos:
Corona: Wie ich als Risikoperson versuche, mit der Angst umzugehen
EDITION F / Rebecca Maskos / 26.03.2020
Covid-19 V
Müssen Menschen mit Behinderung befürchten, im Krisenmanagement unterzugehen? Ja, meint auch kobinet-Redakteur Otmar Miles-Paul: Deutschland sei menschenrechtlich nicht besonders gut aufgestellt:
Erschreckende Nachrichten – beängstigende Aussichten
kobinet-nachrichten / Ottmar Miles-Paul / 26.03.2020
Covid-19 VI
Als am 16. März die Schulen schlossen, blieben die Eltern von vielen Förderschüler*innen ratlos zurück. Für ihre Kinder galten andere Regeln. Vom Westen in Bad Neuenahr…
»Unsere Kinder sind keine zweite Wahl!«
Wochenspiegellive / 19.03.2020
Covid-19 VII
… bis zum Osten in Cottbus:
Verwirrende Regelungen für Menschen mit Behinderung
LR ONLINE / Andrea Hilscher / 23.3.2020
Covid-19 VIII
Und zehn Tage später ist vielen Verantwortlichen immer noch nicht klar, dass nicht jeder Mensch in die Regeln passt:
Attest für den Spielplatz
spiegel.de / Swantje Unterberg / 29.3.2020
Covid-19 & Sorgerecht
Dafür arbeiten andere Behörden weiter, als sei nichts passiert: Mitten in der Corona-Krise will ein Jugendamt einen 14jährigen gegen seinen Willen zwangsweise in eine Jugendhilfeeinrichtung für verhaltensauffällige Kinder bringen. Dahinter steht einer der zahlreicher werdenden Fälle, in denen Eltern von Kindern mit Behinderung das Sorgerecht eingeschränkt wird.
Eltern wollen Ihren Sohn nicht ins Internat geben
WDR Lokalzeit aus Köln / 24.03.2020
Welt-Down-Syndrom-Tag
Der Tag der Menschen mit Trisomie 21, der traditionell am 21.3. jedes Jahres stattfindet, ist dieses Jahr in der Bedrohung durch das neue Virus weitgehend untergegangen. Wie wichtig er ist, zeigt ein Fall aus Bayern, in dem die bisher gelungene Inklusion am Wechsel in die weiterführende Schule zu scheitern droht.
Ein Leben mit dem speziellen Extra
Donaukurier / Tanja Stephan / 20.03.2020
Bluttest auf Trisomien
Dass der vorgeburtliche Bluttest auf Trisomien von den Krankenkassen bezahlt wird, ist beschlossen. Umgesetzt werden kann das aber erst, wenn es eine offiziell beschlossene Patienteninformation gibt. Den Entwurf hat das IQWiG – Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen – jetzt veröffentlicht. Die Frist für Stellungnahmen ist nun verlängert worden bis zum 29. Mai.
Info-Broschüre zum Bluttest auf Trisomien: Jetzt Stellung nehmen!
mittendrin—koeln.de / 11.03.2020
Elternwahlrecht
Auch in anderen Bundesländern ist inklusive Bildung für Schüler*innen mit Behinderung buchstäblich schwer zu erreichen. Wer beim sogenannten Elternwahlrecht die Inklusion wählt, muss die Folgen tragen: Zum Beispiel weit entfernte Schulen akzeptieren und das Kind selbst dort hinfahren und abholen.
Teurer Schulweg für Behinderte
RP-online / Kirsten Bialdiga / 28.02.2020
Förderschulen I
Während für die inklusive Bildung überall Geld fehlt, investieren Kommunen immer noch erhebliche Summen in den Bau von Förderschulen. Sieben Millionen Euro sind es zum Beispiel in Brühl…
Maria-Montessori-Schule in Brühl Erweiterungsbau der Schule ist beschlossene Sache
Rundschau-Online.de/ Wolfram Kämpf / 03.03.2020
Förderschulen II
… und mehr als 30 Millionen Euro in Neuenhagen im Landkreis Märkisch-Oderland. Hier muss sogar ein Kredit aufgenommen werden für die „größte Schulinvestition des Landes“.
Landkreis nimmt Kredite für Schulneubauten auf
MOZ.de / Ulf Grieger / 21.02.2020
Förderschulen – Update zum Inklusions-Pegel Februar I
Der Landschaftsverband Rheinland wollte im Februar seine Verwaltung beauftragen, den Bau neuer zusätzlicher Förderschulen zu planen. Nachdem Kritik von außen kam, wurde inzwischen die Beschlussvorlage verändert. Der Bau neuer Förderschulen soll nur noch das letzte Mittel sein. Das Problem bleibt:
LVR: Bau neuer Förderschulen bleibt Option
mittendrin-koeln.de / 29.03.2020
Förderschulen – Update zum Inklusions-Pegel Februar II
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hatte im Februar beim Besuch einer Förderschule in Mecklenburg-Vorpommern den Erhalt der Förderschulen propagiert. Jetzt müssen sich ihre Parteifreund*innen im Norden mit den Nachwirkungen des Ministerinnen-Zitats herumschlagen.
CDU-Politiker: Inklusionsstrategie auf Prüfstand stellen
sueddeutsche.de / 28.02.2020
Schulen für Inklusion I
800 Schüler*innen der Gesamtschule Nord haben in Essen für Bildungsgerechtigkeit demonstriert, gemeinsam mit ihren Lehrer*innen. Sie fordern, dass ihre Schule instand gesetzt wird und sie fordern eine bessere Ausstattung im Sinne aller Schüler*innen. Nur die Zeitungsredaktion hat sich noch nicht mit dem Thema Bildungsgerechtigkeit befasst. Für die WAZ sind Inklusion und Integration noch finstere Gegner, mit denen die Schule „ringen“ muss.
Großdemo: Essener Schüler fordern mehr Lehrer und neue Räume
waz.de / Friederike Weyers / 03.03.2020
Schulen für Inklusion II
Gute Nachrichten haben es schwerer, wahrgenommen zu werden. Etwa Berichte aus Schulen, die die Inklusion nicht mehr missen möchten.
Inklusionsklasse an Mannheimer Realschule: „Toleranter als andere Schüler“
morgenweb.de / Fabian Busch / 07.03.2020
Schulen für Inklusion III
Auch die IGS Nordend in Frankfurt/Main ist überzeugt von der inklusiven Bildung und wirbt in Veranstaltungen dafür.
Podium in Frankfurt: Kritik an Förderschulen
Frankfurter Rundschau / 06.03.2020
Einfache Literatur
Schon oft sind Vertreter*innen von Lehrerverbänden zitiert worden, die in der inklusiven Bildung eine Gefahr für das Bildungsniveau sehen. Literaten dagegen sehen Inklusion als Bereicherung: Mehr Leser*innen, eine zusätzliche Stilform und mehr Mut zur Klarheit.
„Einfache Sprache in der Weltliteratur – da muss man nur Camus lesen“
spiegel.de / Anne Haeming / 18.03.2020
… in diesem Sinne
Wenn Politiker den Eindruck erwecken, dass sie keine Lust haben, kann man das auch einfach mal so schreiben. Der „Specht der Woche“ über Inklusion an Schulen vom 9. März:
Specht der Woche – Inklusion in Schulen
taz / Christian Specht / 09.03.2020
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