Inklusions-Pegel März 2021
Ausgabe Nr. 15
Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!
Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.
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Ihr mittendrin e.V.
Am letzten Tag des Monats März hat die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Kreis Unna hohen Besuch bekommen. In einer Online-Konferenz mit der Bundesvorsitzenden Saskia Esken und dem bildungspolitischen Sprecher im Bundestag Oliver Kaczmarek hat man sich über „Bildungschancen für alle Kinder“ ausgetauscht. Das ist ein tolles Thema mit hohem sozialdemokratischen Wohlfühl-Potenzial. Zumindest, wenn man heikle Fragen einfach mal ausspart.
Denn eigentlich hätten die Genossinnen* aus dem Kreis Unna mit schamroten Köpfen vor ihren Bildschirmen sitzen müssen. Ist es doch nur wenige Wochen her, dass die gesamte SPD-Fraktion im Kreistag die Exklusion von Schülerinnen* mit geistiger Behinderung zementiert hat, indem sie geschlossen für den Bau einer dritten kreiseigenen Förderschule Geistige Entwicklung am Standort Lünen gestimmt hat. Statt vor Ort Inklusion zu fördern, wird das Sondersystem ausgebaut. Gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, gegen das NRW-Schulgesetz, das dem Gemeinsamen Lernen deutlich Vorrang verleiht und gegen ihre eigene Programmatik, in der vollmundig steht: „Unsere Kernthemen wir Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gehören eng zu jedem Bildungsprozess.“ Man könnte das Heuchelei nennen.
Doch im Kreis Unna sind die Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung nicht nur den Sozialdemokraten egal. Auch die Linke stimmte geschlossen für Exklusion. Im ganzen Kreistag haben sich nur zwei Abgeordnete dem Bau der neuen Förderschule widersetzt – einer von den Grünen und einer von der CDU. Und leider gehört zur Wahrheit: Unna ist (fast) überall. Auch zwölf Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention wird die neue Rechtslage vielerorts bei schulpolitischen Maßnahmen schlichtweg ignoriert. Das gilt für eine Reihe von Bundesländern und noch mehr für die Kommunen.
Für derartige Fälle hat der Rechtsstaat eigentlich einen Mechanismus. Wenn Verwaltungen und Räte gegen Gesetze verstoßen, kann die Bürgerin* die Gerichte anrufen. Bei strukturellen Entscheidungen wie im Kreistag Unna gibt es jedoch eine Hürde: Einzelnen Klägerinnen* wird es nicht gelingen, einen direkten individuellen Schaden nachzuweisen. Wenn wir der Missachtung des Rechts von Schülerinnen* mit Behinderung nicht weiter zusehen wollen, bleibt nur eine Lösung: Wir brauchen ein Verbandsklagerecht für die inklusive Bildung.
Die Themen im März
Exklusion in Unna I
Nach dem Willen von SPD, Grünen, Linken und CDU im Kreis Unna sind zwei Förderschulen Geistige Entwicklung nicht genug. Jetzt soll eine Dritte gebaut werden. Nur zwei Ratsmitglieder stimmten dagegen. Einer von ihnen ist der ehemalige Bundesbehindertenbeauftragte Hubert Hüppe. Er sagt: „Ich bin nicht bereit für eine weitere Förderschule zu stimmen, bevor hier nicht mal ein Konzept überlegt wird, um Inklusion zu stärken.“
Neue Förderschule trotz Gegenstimme von Hubert Hüppe
kobinet
Exklusion in Unna II
In Unna wie anderswo wird der Bau neuer Förderschulen stets damit begründet, dass die Anmeldezahlen an dieser Schulform doch steigen würden. Ein Schlag ins Gesicht für alle Eltern, die nur dort angemeldet haben, weil es für ihr Kind kein gutes Angebot inklusiver Bildung gibt. Denn immer noch gilt die Erfahrung der Familie Kirsch aus Bergkamen im Kreis Unna: „Wir sind überall und immer auf Ablehnung gestoßen und mussten darum kämpfen, dass Inklusion möglich war“. Für ihren Sohn Florian hat sich der Kampf gelohnt. Er ist inklusiv zur Schule gegangen und arbeitet heute in einem Zahnlabor in Lünen. Von den Schülerinnen* der Förderschule Geistige Entwicklung dagegen finde pro Jahr maximal eine* einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt. Ulrich Kirsch fordert, die Millionen, die der Kreis Unna jetzt in die zusätzliche Förderschule investieren will, lieber für mehr und bessere Inklusion zu verwenden.
Kritik an neuer Förderschule: „Da kommt nur einer nicht in die Behindertenwerkstatt“
Hellweger Anzeiger
Zum Artikel (Paywall)
Steuerung I
Wie in Deutschland zeigt sich auch in Österreich: Gesetze für inklusive Bildung nützen nicht viel, wenn die Umsetzung vernachlässigt wird. Der Monitoring-Ausschuss im Bundesland Salzburg gibt den Regierenden Ratschläge:
Empfehlungen des Salzburger Monitoringausschusses zur inklusiven Bildung 2021
bizeps
Steuerung II
Auch für die Praxis in den Schulen reicht es nicht, Inklusion einfach in Gesetze und Verordnungen zu schreiben und den Rest den mehr oder weniger erfahrenen Lehrerinnen* und Schulleitungen zu überlassen. Der österreichische Bildungsminister hat ein Consulting Board für Inklusion und Sonderpädagogik eingesetzt. Das Gremium hat jetzt ein Strategiepapier vorgelegt:
Bildungsminister Faßmann schafft Rahmen für inklusive Bildung und Sonderpädagogik
APA-OTS
Steuerung III
Der Wetteraukreis in Hessen hat zu den Modellregionen des Landes für inklusive Bildung gehört. Auch nach Ende des Modellprojekts wird die inklusive Entwicklung weiter geplant und gesteuert. Die Förderschulen werden nun in ein Kompetenzzentrum (Schulen ohne Schüler*innen) für Sonderpädagogik überführt, die dann die Inklusion an den allgemeinen Schulen vor Ort unterstützen sollen.
Zahl der Wetterauer Förderschulen sinkt auf drei
Kreis-Anzeiger
Steuerung IV
Wenn Eltern ihre Kinder an Förderschulen anmelden, hat das oft mit fehlender Ermutigung für den inklusiven Weg zu tun – und mit fehlender Information. Die Stadt Karlsruhe hilft hier seit Jahren schon mit dem Karlsruher Elternforum Inklusion nach und kooperiert dabei mit einem Elternverein. In regelmäßigen Veranstaltungen stehen Staatliches Schulamt, das städtische Schul- und Sportamt, die Agentur für Arbeit, die Berufsschulen und der Karlsruher Verein Eltern und Freunde für Inklusion (EFI) als Ansprechpartner für die Eltern zur Verfügung. Die Stadt finanziert auch Elternlotsen, die bei Antrags- und Anmeldeformalitäten helfen.
Karlsruher Sonderweg in Sachen Inklusion: Elternforum wegen Corona jetzt online
Badische Neueste Nachrichten
Fehlsteuerung
Im niedersächsischen Jesteburg streiten Bürgerinnen* für eine wohnortnahes Schulangebot für alle Schülerinnen*. Anstatt die inklusive Oberschule vor Ort mit einer gymnasialen Oberstufe auszustatten, soll sie nach dem Willen der Politik komplett in ein Gymnasium umgewandelt werden – mit der Folge, dass alle Nicht-Gymnasiasten in Zukunft auswärts zur Schule gehen müssten.
Jesteburger Schul-Initiative kämpft für eine IGS mit Oberstufe
Kreiszeitung Wochenblatt
Bayern I
Die Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung ist für die Betroffenen meistens ein einsamer Kampf. Doch es gibt Ausnahmen. In München wurde ein Schüler jetzt mit einer Demonstration unterstützt:
Streit um die passende Schule
Süddeutsche Zeitung
Bayern II
Die Stadt Erlangen rühmt sich „sehr guter Fortschritte“ bei der „Ausweitung eines inklusiven schulischen Angebots“. Anlass ist die Einrichtung einer neuen „Partnerklasse“ einer allgemeinen Schule mit einer Förderschule Geistige Entwicklung. Deren Schülerinnen* sollen ganze 8 bis zwölf Stunden pro Woche gemeinsam unterrichtet werden.
Ernst-Penzoldt-Mittelschule erhält Partnerklasse in Kooperation mit Georg-Zahn-Schule
Der Neue Wiesenbote
Bayern III
Mit einer ebenso kreativen wie halsstarrigen Hinhaltetaktik entzieht sich das Land Bayern seiner Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems. Die Verästelungen dieser Schulpolitik wecken das Interesse der Wissenschaft. Der emeritierte Sonderpädagogik-Professor Hans Wocken hat sie in einem inzwischen fünfteiligen Werk seziert:
Schulische Inklusion in Bayern
Hans Wocken
Migration und Inklusion
Wie steht es um die Bildung von geflüchteten Jugendlichen? Thomas Kemper von der Universität Osnabrück hat in NRW Daten des Ausländerzentralregisters mit Bildungsdaten der amtlichen Schulstatistik des Schulministeriums kombiniert. Er hat dabei auch die Förderschulen nicht vergessen:
Bildungsbeteiligung und Schulerfolg von Geflüchteten in NRW
Integrationsmonitoring NRW
Minderheiten und Inklusion
Gianni Jovanovic ist Rom und – wie so viele – ehemaliger Sonderschüler: „Das war das erste institutionelle, rassistische Trauma, das meiner Kinderseele angetan worden ist.“
„Ich bin der Mann, der ich bin“
taz
Debatte
Inklusive Bildung ist kein Minderheitenthema. Bettina Krück, Organisatorin des Online-Inklusionskongresses, legt auseinander, warum sich auch sogenannte Nicht-Betroffene dafür engagieren sollten:
Fünf Gründe, warum sich Lehrkräfte und Eltern für Inklusion engagieren sollten
news4teachers
Schulbegleitung
Niemand hat damit gerechnet, dass mit Beginn der inklusiven Entwicklung an unseren Schulen ein großer neuer Berufsstand entstehen würde – weil Schulen schlecht ausgestattet sind und händeringend nach Unterstützung suchen. Inzwischen werden die Begleiterscheinungen diskutiert: prekäre Beschäftigung, schlechte Bezahlung, fehlende Ausbildung, große Fragen für die Pädagogik.
Inklusive Bildung in der Krise
DIE NEUE NORM
Berufsbildung
Junge Menschen mit Behinderung haben wenig Chancen auf eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Es wird Zeit, dass sich dies ändert, finden die Behindertenbeauftragten der Bundesländer. In ihrer Berliner Erklärung fordern sie den Auf- und Ausbau eines Berufsbildungssystems, das in seinen Rahmenbedingun¬gen die Belange von Menschen mit Behinderung umfassend berücksichtigt.
Menschen mit Behinderung bei Berufsbildung berücksichtigen
Ärzteblatt
Corona I
Damit Schule irgendwie weiter gehen kann, bauen Länder und Kommunen nun deutlich schneller eine digitale Infrastruktur auf. Für manche Schülerin* mit Behinderung bringt das Vorteile. Die meisten verlieren in der Corona-Zeit aber deutlich mehr Bildungschancen als ihre Mitschülerinnen* ohne Behinderung:
„Von Bildungsgerechtigkeit sind wir weit entfernt“
Deutschlandfunk Kultur
Corona II
Schülerinnen* mit Autismus haben einen eigenen Blick auf Schule in der Pandemie. Den einen fehlt besonders die Struktur. Andere sind ganz froh, mehr ruhige Zeit für sich zum Lernen zu haben. Die Erfahrungen sammeln sich bei der Autismus-Selbsthilfe Rhein-Erft:
Die besondere Herausforderung von Autismus und Corona
Rhein-Erft-Rundschau
Corona III
Keine Schule – keine Schulbegleitung? Das war vor einem Jahr eine beliebte Formel von Kommunen, die sich in der Eingliederungshilfe einen schlanken Fuß machen wollten – auf Kosten des Rechts auf Bildung. Manche argumentieren immer noch so:
Entscheidung zwischen Gesundheit und Bildung
FAZ
Corona IV
In den vor allem in Bayern und Baden-Württemberg favorisierten Kooperationsmodellen zeigt sich, dass die Teilhabe von Schülerinnen* mit Behinderung schnell wieder abbricht, wenn die Bedingungen schwierig werden. Dann sind die Betroffenen wieder Schülerinnen* unterschiedlicher Schulen. Kooperation ist eben doch keine Inklusion:
Kinder im Landkreis Karlsruhe lernen und profitieren durch Inklusion an der Schule voneinander
Badische Neueste Nachrichten
Exklusion
Die Gymnasien in Nordrhein-Westfalen werden nicht müde zu betonen, dass sie doch auch inklusiv seien. Man unterrichte selbstverständlich Schülerinnen* mit Behinderung, solange sie auf dem Weg zum Abitur mithalten können. Dass auch dies nicht die ganze Wahrheit ist, zeigt der Fall aus Westerkappeln:
Mettinger Gymnasium will Zwillinge nicht aufnehmen – wegen psychischer Behinderung
Neue Osnabrücker Zeitung
Zum Artikel (Paywall)
Fortbildung
Die RWTH Aachen engagiert sich für die Fortbildung in Sachen inklusiver Bildung. Hier das Angebot an Online-Veranstaltungen:
Aachen – Aachener Abendgespräche zur schulischen Inklusion: RWTH bietet online-Veranstaltungen im Sommersemester 2021 an
Mittelrhein-Tageblatt
Lehrerbildung
Die Sonderpädagogik lernt viel über Menschen mit Behinderung, aber wenig von ihnen. In einem Modellprojekt werden jetzt Menschen mit Behinderung zu Uni-Dozentinnen* ausgebildet:
Von der Behindertenwerkstatt in den Hörsaal
WDR-Menschen hautnah
NIPT I
Ein Jahr lang ging die geplante Kassenzulassung der vorgeburtlichen Bluttests auf Trisomien ihren geregelten Gang. Ein Runder Tisch von Behindertenverbänden, weiteren Initiativen und Expertinnen* der Pränataldiagnostik macht nun deutlich, dass hier ohne politische Entscheidung eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, die niemand wollen kann:
Scharfe Kritik an Plänen zu Trisomie-21-Test
ntv
NIPT II
Bereits im letzten Jahr hat sich ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis gegen die Kassenzulassung des Bluttests auf Trisomien formiert. Seit diesem Monat hat das Bündnis einen Namen – #NoNIPT – und eine eigene Webseite. Hier finden sich alle aktuellen Informationen – und Unterstützerinnen* können sich online eintragen:
#NoNIPT – Bündnis gegen die Kassenfinanzierung des Bluttests auf Trisomien
#NoNIPT
NIPT III
Die Zeitung Jungle World hat den vorgeburtlichen Bluttests Ende März einen thematischen Schwerpunkt gewidmet. Kirsten Achtelik stellt darin auch die Frage, ob vorgeburtliche Tests der Selbstbestimmung von Schwangeren dienen:
»Eine freie selbstbestimmte Entscheidung ist eine Utopie«
jungle.world
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