Inklusions-Pegel Mai 2021
Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!
Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.
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Ihr mittendrin e.V.
Können sprachliche Begriffe Schaden anrichten? Es muss irgendwann zwischen Anfang und Mitte der 10er Jahre gewesen sein, als der Begriff des „Kindeswohls“ Einzug in die Schulpolitik hielt. Die UN-Behindertenrechtskonvention war ratifiziert. Deutschland hatte sich der internationalen Selbstverpflichtung angeschlossen, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Kinder mit Behinderung sollten in die allgemeinen Schulen integriert werden. Manchen Schulpolitikerinnen* war und ist das unheimlich. Sie finden, Kinder mit Behinderung seien in getrennten Förderschulen „besser aufgehoben“. Es sei zu ihrem „Wohl“.
So hat das „Kindeswohl“ Einzug in die Schulpolitik gehalten. Ein Begriff, der gar nicht zum Rechtskreis der Schulpolitik gehört, sondern aus dem Kinder- und Jugendschutz stammt. Um das „Kindeswohl“ geht es in Jugendschutzgesetzen, und zwar immer dann, wenn Kinder vor allem in ihren Familien in Gefahr sind. Mit der „Kindeswohlgefährdung“ rechtfertigt der Staat Maßnahmen, mit denen Jugendämter zum Schutz von Kindern in das elterliche Sorgerecht eingreifen können. Es ist ein scharfes Schwert für verfassungsrechtlich äußerst heikle staatliche Eingriffe ins Familienleben. Und hier liegt die Gefahr, wenn Schulpolitiker in Sachen Schulwahl vom „Kindeswohl“ sprechen:
Die Jugendämter haben die Inspiration aus der Schulpolitik aufgegriffen - und in ihr Arbeitsfeld übersetzt. Und das geht so: Wenn die Anmeldung einer* Schülerin* an der Förderschule mit dem „Kindeswohl“ begründet wird, dann wäre die inklusive Schule in diesem Fall eine „Kindeswohlgefährdung“.
Der Begriff, der in der Schulpolitik noch so freundlich daherkommt, wird nun zur Begründung, Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen. Ein Bestehen der Eltern auf das Recht ihres Kindes auf inklusive Bildung wird zum Tatbestand in einer Reihe mit elterlicher Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch. Menschenrechtlich gesehen ist das atemberaubend, aber leider Realität. Von Schleswig-Holstein über Nordrhein-Westfalen bis Bayern werden zunehmend Fälle bekannt, in denen Jugendämter den Eltern das Sorgerecht entziehen lassen, um die Beschulung an einer Förderschule durchzusetzen – angeblich um eine Kindeswohlgefährdung abzustellen.
Das Kidnapping des Begriffs Kindeswohl durch die inklusionsskeptische Schulpolitik, und das Wiederaufgreifen durch die Jugendämter ist eine geradezu groteske Verfälschung des Gedankens der UN-Behindertenrechtskonvention, die sich die Autorinnen* wohl niemals hätten vorstellen können. Sie haben die inklusive Bildung in der Konvention verankert, um Kindern mit Behinderung endlich Teilhabe an Bildung und Gesellschaft zu verschaffen. Sie haben dafür „angemessene Vorkehrungen“ rechtlich verankert, damit der Staat die richtige und ausreichende Unterstützung bereitstellt. Das tut der Staat bis heute nicht. Und jetzt greift er Eltern, die dafür streiten, auch noch in die elterlichen Rechte ein. Ein Fall dieser Art ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig.
Die Themen im Mai
Förderschulzwang
Der Fall einer 15jährigen aus Rheinland-Pfalz liegt beim Bundesverfassungsgericht vor. Das Jugendamt hat der Mutter das Sorgerecht gerichtlich entziehen lassen, um gegen den Willen von Mutter und Tochter eine Sonderbeschulung durchzusetzen. Jetzt erregt der Fall internationale Aufmerksamkeit. Die UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung und für Menschen mit Behinderung haben der Bundesrepublik Deutschland ein Statement zugestellt:
Statement der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung und für Menschen mit Behinderung
Die Hintergründe des Falls sind hier noch einmal zusammengefasst:
Umschulung auf Förderschule: UN-Sonderberichterstatter intervenieren
bizeps
Schulwahl
Ist die Förderschule für manche Schülerinnen* die bessere Wahl? Unaufhörlich wird diese Frage von Politikern und Fachleuten diskutiert, und zumeist sehr paternalistisch. Nur selten werden die Betroffenen gefragt:
Ich weigerte mich, auf eine Förderschule zu gehen
Zeit
Diagnostik
Immer noch ein Tabu-Thema: Sonderpädagogische Diagnosen sind fehlbar und können im Einzelfall großen Schaden anrichten. Besonders hart trifft dies Schülerinnen*, wenn sie unter Verkennung ihrer Potenziale in den Bildungsgang Geistige Entwicklung eingeteilt worden sind. Sehr selten nur finden Betroffene die Kraft und die Unterstützung, sich zu wehren. Hier ein Fall aus Augsburg:
Schicksal eines jungen Riesers: "Ich bin nicht geistig behindert"
Augsburger Allgemeine
Zum Artikel (Paywall)
Baden-Württemberg
Zwei Amtszeiten lang hat die grün-geführte Landesregierung in Baden-Württemberg die Umsetzung der inklusiven Bildung verschleppt. Jetzt erkennen Betroffene einen Lichtschimmer im Koalitionsvertrag. Dort steht: "Zudem soll in jedem Schulamtsbezirk ein Zeitplan für einen inklusiven Schulentwicklungsprozess erstellt werden." Wir sind gespannt!
Jetzt für morgen. Der Erneuerungsvertrag für Baden-Württemberg
gruene-bw
Niedersachsen
Der Mangel an Lehrerinnen* und Sonderpädagoginnen* gilt als eines der ganz großen Hindernisse für den Aufbau der inklusiven Bildung. Um hier wenigstens auf längere Frist eine Verbesserung zu erreichen, müssen dringend mehr Lehrerinnen* ausgebildet werden, und zwar für die Aufgabe der Zukunft: die inklusive Bildung. Der niedersächsische Wissenschaftsminister scheint das anders zu sehen. Er will eine Professur für inklusive Bildung streichen.
Grüne fordern Erhalt der Professur für Inklusive Schulische Bildung an der Universität Hannover
fraktion.gruene-niedersachsen
Bewegung
In Berlin baut sich eine Bewegung für eine umfassende Schulreform auf. Die Unterstützerinnen* inklusiver Bildung haben daran einen wesentlichen Anteil:
Kampagne "Schule muss anders" fordert bessere Bildung
Zeit
Deutscher Schulpreis
Der Deutsche Schulpreis hat in diesem Jahr ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie gut Schulen den Einschränkungen der Pandemie begegnet sind. Und wieder zeigt sich: inklusive Schulen sind die besseren Schulen:
Sie stellte Beeindruckendes auf die Beine: Hamburger Schule gewinnt wichtigen Preis
MOPO
und wer noch mehr über die Hamburger Schule Alter Teichweg wissen will:
Deutscher Schulpreis 2021 – Eine eigene Late-Night-Show für das Miteinander
Deutschlandfunk
Inklusive Schule
Auch in Köln zeigt eine gute inklusive Schule, wie man besser durch die Corona-Zeit kommt. Ein Podcast über eine öffentliche Schule ohne Jahrgangsklassen und Stundentafel:
Kölner Heliosschule im Podcast: Wie Schule ohne Fächer und Altersgrenzen gelingt
Kölner Stadt Anzeiger
Inklusives Gymnasium
Vielen gilt die Inklusion als unvereinbar mit der Schulform Gymnasium. Die Tellkampschule in Hannover versucht den Gegenbeweis:
Inklusives Gymnasium Tellkampfschule – Motiviert aus tiefstem Herzen
Deutschlandfunk Kultur
Kommunales 1
Um Konflikte zu vermeiden, hält die Schulpolitik in vielen Bundesländern die inklusive Entwicklung von den Gymnasien fern, zum Teil auch von den Realschulen. Das erzeugt neue Probleme in der Kommunalpolitik, wie hier in Nordrhein-Westfalen:
Schließung der Realschule eine Option
Die Glocke
Kommunales 2
Dass Kommunen und Kreise sich systematisch mit der Aufgabe beschäftigen, vor Ort eine inklusive Schullandschaft aufzubauen, ist immer noch selten. Stattdessen wird auch in der Region Hannover viel Geld ausgegeben, das alte System der Förderschulen zu erhalten:
Region will Förderschule für 2 Millionen Euro kaufen
Hannoversche Allgemeine
Kommunales 3
In der Gemeinde Weyhe im Kreis Diepholz/Niedersachsen diskutiert der Rat: Braucht man eine neue Förderschule-Dependance oder sollte man mehr für schulische Inklusion tun?
Inklusion auf dem Prüfstand
Weser Kurier
Bluttest auf Trisomien 1
Fragen, die nach Lektüre dieses Artikels offen bleiben:
Wie kommt der G-BA zu der Aussage, dass der NIPT als Kassenleistung auf wenige Ausnahmesituationen - auffälliger Ultraschall, Alter, Familiengeschichte - beschränkt sei? Das steht so NICHT in der neuen Mutterschaftsrichtlinie.
Wenn die Sorge, dass der NIPT in Richtung eines Screenings aller Schwangeren auf Trisomie 21 geht, wirklich unbegründet ist, wie im Artikel Kurt Hecher der UKE Hamburg und Christoph Rehmann-Sutter der Uni Lübeck zitiert werden, warum geht dann der Berufsverband der Frauenärzte von einer künftigen Inanspruchnahme des NIPT von bis zu 90 % aus? (Zur Stellungnahme) Und Marktanalysten der Pharmaszene von rund 75 %? (Zum Interview)
Und was ist das für ein schwaches Argument von Rehmann-Sutter: "Und wenn die Tests ohnehin erlaubt sind: Warum sollte die finanzielle Ausstattung darüber entscheiden, wer sie durchführt?" Warum wird dann nicht NIPT auf Mukoviszidose, Monosomien, Mikrodeletionen gezahlt?
Paare mit Geld buchen diese Optionen einfach dazu, die soziale Unwucht bleibt. Und warum wird die Frage der sozialen Gerechtigkeit ausgerechnet bei der Vermeidung eines Kindes mit Trisomie gestellt? Brillen werden auch nicht gezahlt.
Warum wird laut Christina Schües der Uni Lübeck die rote Linie erst bei weiteren Untersuchungen des Genoms überschritten? Was sagt das über unseren Blick auf Menschen mit Down-Syndrom?
Der Artikel folgt unreflektiert einem problematischen Narrativ im medizinischen Diskurs: "Behinderung = Leid = Schaden“. Unter Diskriminierungsgesichtspunkten eine Katastrophe.
Ist mein Kind krank oder nicht?
Süddeutsche Zeitung
Zum Artikel (Paywall)
Bluttest auf Trisomien 2
Hört uns endlich zu! Kampagne „100 Stimmen für #NoNIPT“
NoNIPT
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