Inklusions-Pegel - Der Newsletter zu inklusiver Bildung in Deutschland

Inklusions-Pegel November 2020

Ausgabe Nr. 11

Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!

Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.

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Ihr mittendrin e.V.

Kommentar: Die Eule spricht

Es ist ein unfassbarer Skandal, der (fast) niemanden interessiert: Die Welle von „Geistig-behindert“-Diagnosen an unseren Schulen, und die sich mehrenden Belege, dass sie öfter falsch liegen.

Vor drei Jahren hat das Thema kurzzeitig für öffentliches Entsetzen gesorgt, als Nenad M. nach elf Jahren falscher Beschulung auf der Förderschule Geistige Entwicklung gegen das Land NRW vor Gericht zog und schließlich gewann.

Längst hat sich die Aufregung gelegt. Das Schulministerium bedauerte den tragischen „Einzelfall“. Thema erledigt? In diesem November berichtete der Journalist Björn Stephan in der ZEIT über drei weitere Fälle von Schüler:innen, die – dieses Mal in Hessen - auf höchst zweifelhafte Weise zu Lern- oder Geistigbehinderten etikettiert worden sind.

Es sind zerstörte Bildungslaufbahnen, jede einzelne. Und keiner der Jugendlichen möchte mit seinem richtigen Namen in der Zeitung erscheinen. Zu schambesetzt ist die Vorstellung, mit dem Etikett einer geistigen Behinderung bekannt zu werden. Zu gering ist das Selbstbewusstsein, nach oftmals Jahren und Jahren, in denen sie täglich unter der Zuschreibung gelebt haben, dass sie minder intelligent seien und dies nur noch nicht eingesehen hätten.

Nun fragt man sich: Wie kann das passieren? Wie können Sonderpädagog:innen, die wir für exzellent ausgebildete Expert:innen halten, so falsch liegen? Wie können unsere gut ausgestatteten und für ihre besonders gute Förderung ständig öffentlich gelobten Förderschulen diese Kinder jahrelang unterrichten und den Fehler nicht bemerken? Und: wie viele junge Menschen sind es, die hier jeglicher Bildungschancen beraubt werden?

Auffällig ist das dröhnende Schweigen der Schulpolitik. Wer glaubhaft die Worte Chancengleichheit oder Bildungsgerechtigkeit in den Mund nehmen will, müsste jetzt dafür sorgen, dass in den Schulen alle Diagnosen von geistigen Behinderungen unabhängig überprüft werden: jede einzelne!

Und nein, das bedeutet nicht, dass alle Schüler:innen mit überprüft „richtigen“ Diagnosen dann „zu Recht“ eine Sonderschule besuchen und dort „gut aufgehoben“ sind. An den bekannt gewordenen Fällen aus Nordrhein-Westfalen und Hessen wird eines deutlich: Die Förderschule Geistige Entwicklung ist ein Ort, der Kindern und Jugendlichen vor allem basale lebenspraktische Förderung bietet. Sie ist aber auch ein Ort, der seine Schüler:innen auf dieses extrem reduzierte Bildungsprogramm festlegt. Soweit in den deutschen Ländern Lehrpläne für diesen Förderschwerpunkt vorliegen, verfolgen sie ganz offen vor allem ein fatales Lernziel:

Die Schüler:innen sollen lernen, ihre Einschränkung zu erkennen und zu akzeptieren. Mit der Förderschule Geistige Entwicklung leisten wir uns also eine Schulform, die ihre Schüler:innen nicht etwa beflügeln will, sondern auf ein angeblich vorherbestimmtes Maß begrenzt. Gibt es ein größeres Paradox?

Die Themen im November

Diagnostik

Die Sonderpädagogik soll Schüler:innen helfen und ihnen eine besondere Förderung bieten. Sie kann aber auch immensen Schaden anrichten. Die ZEIT-Reportage von Björn Stephan über falsche Diagnosen und zerstörte Schullaufbahnen in Hessen, hier ohne Paywall:

Aussortiert

Björn Stephan & Mario Wenzel / Recherche & Reportage / 4.11.2020

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Ein Globus mit schwarzem Meer und silbernen Kontinenten. Ein Kinderarm ragt von rechts unten ins Bild und zeigt auf Westafrika.


Stand der Dinge

Zwölf Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention gibt es in Deutschland weder Einigkeit noch eine stringente schulpolitische Umsetzung der Inklusion an den Schulen. Der Journalist Armin Himmelrath hat die Brüche in einem Hörfunkfeature nachgezeichnet:

Zwei Wege, ein Ziel?

Armin Himmelrath / Deutschlandfunk / 17.11.2020

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Frau sitzt am Tisch im Klassenzimmer. Auf ihrem Schoß sitzt ein Junge mit Trisomie 21 und spricht. Drei weitere Kinder stehen um sie herum. Alle schauen auf sein Heft.


Rituale I

Alljährlich hagelt es in den Medien die immer gleiche Schlagzeile, dass Deutschlands Lehrer:innen die Inklusion für nicht machbar halten. Dann hat der Verband Bildung und Erziehung VBE wieder eine Umfrage in Auftrag gegeben. Im Ergebnis fehlt es im bundesweiten Überblick vor allem an Geld, Personal und barrierefreien Schulen:

Lehrer fühlen sich mit Inklusion alleingelassen

Armin Himmelrath / Spiegel / 9.11.2020

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Blick unter den Tisch in einem Klassenzimmer. Man sieht die Füße von mehreren Kindern auf einem Stuhl. Ein Kind sitzt im Rollstuhl.


Rituale II

Heruntergebrochen auf das Land Baden-Württemberg fehlt es nach Ansicht der befragten Lehrer:innen an Geld, Personal und barrierefreien Schulen:

Umfrage: Akzeptanz der Lehrer für Inklusion geht zurück

Zeit / 9.11.2020

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Ein leerer Rollstuhl steht im Schulflur vor der Tür zum Klassenzimmer.


Rituale III

Und in Rheinland-Pfalz fehlt es an Geld, Personal und barrierefreien Schulen:

Studie des VBE: Unterricht an Förderschulen sinnvoll

RTL / 9.11.2020

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Blick unter den Tisch in einem Klassenzimmer. Man sieht die Füße von mehreren Kindern auf einem Stuhl. Ein Kind sitzt im Rollstuhl.


Rituale IV

Die Süddeutsche Zeitung vermutet ein bewusstes Aushungern der Inklusion durch so manche Landesregierung:

Großes Ziel, kleiner Einsatz

Edeltraut Rattenhuber / Süddeutsche Zeitung / 9.11.2020

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Rituale V

Erweitert wird das Bild im Blick der Wissenschaft. Der Hannoveraner Bildungsforscher Rolf Werning legt dar, dass die Schulministerien nicht nur bei den Ressourcen, sondern auch bei der Steuerung versagen. Und er erklärt, warum sich auch die Schulen und die Lehrer:innen deutlich mehr für Inklusion bewegen müssen. Leseempfehlung!

„Inklusion gelingt nicht, indem man einen Schalter umlegt“

Annette Kuhn / Das Deutsche Schulportal / 13.11.2020

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Viele quadratische Kacheln hängen über- und nebeneinander. Auf jede Kachel wurde ein Portrait von einem Kind gemalt. Es ist ein Ausschnitt von noch viel mehr Kacheln mit Portraits.


Rüge

Spanien hat eine Rüge vom UN-Fachausschuss über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) kassiert. Der Ausschuss wertete es als Verletzung der Konvention, dass ein Junge in ein Förderzentrum gezwungen wurde, nachdem in der inklusiven Schule Schwierigkeiten auftauchten. Zusätzlich wurde Spanien ermahnt, den Aufbau der inklusiven Bildung zu intensivieren. Vergleicht man die Fortschritte in Spanien und hierzulande, dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch Deutschland vom UN-Gremium wegen der Verweigerung inklusiver Bildung gerügt wird.

UN-Ausschuss rügt Spanien wegen Verletzung des Rechts auf inklusive Bildung

Deutsches Institut für Menschenrechte

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Sechs Flaggen vor dem UNO-Gebäude.


Europa I

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, hat im November den europäischen Inklusionsgipfel organisiert. Die Vernetzung in der Union soll die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention voranbringen. Auch in Deutschland fordert Dusel mehr Mut in Sachen schulischer Inklusion:

„Jetzt macht euch mal locker!“

Edeltraud Rattenhuber / Süddeutsche Zeitung / 16.11.2020

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Ein Mann spricht am Rednerpult im Bundestag


Europa II

Unter Beteiligung der Zivilgesellschaft hat der Gipfel eine Erklärung zur Europäischen Behindertenstrategie verabschiedet:

Erklärung zur Europäischen Behinderten-Strategie verabschiedet

Hartmut Smikac / kobinet Nachrichten / 18.11.2020

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Flagge der EU


Corona

Auch nach acht Monaten Pandemie werden Kinder und Jugendliche mit Behinderung bei den notwendigen Maßnahmen in den Schulen immer und immer wieder vergessen:

„Von Bildungsgerechtigkeit sind wir weit entfernt“

Timo Grampes / Deutschlandfunk Kultur / 22.11.2020

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Blick in ein Klassenzimmern mit Kindern. Im Vordergrund sitzen zwei Mädchen mit dem Rücken zu Kamera. Sie tragen Masken. Eines der Mädchen dreht sich um und schaut und die Kamera.


Kommunen I

Bis heute sind es nur wenige Kommunen, die ihre Rolle beim Aufbau der inklusiven Bildung ernst nehmen. Die Stadt Chemnitz legt nun einen Kommunalen Inklusionsplan vor, der die Schulentwicklung ausdrücklich einbezieht:

Lokaler Aktionsplan „Chemnitz inklusiv 2030“ beschlossen

Chemnitz, Stadt der Moderne / 25.11.2020

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Kommunen II

Wenn Städte sich erweitern, sind neue Schulen integraler Bestandteil der Planung. Städte wie Köln planen dabei stumpf neue Förderschulen mit ein. Freiburg plant Inklusion.

Bildungspolitischer Meilenstein – Mit der Gemeinschaftsschule in Dietenbach in Freiburg entsteht eine Schule für alle

Regiotrends / 17.11.2020

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Logo der Stadt Freiburg


Kommunen III

Der Landkreis Gifhorn in Niedersachsen will unbedingt eigene Förderschulen für Schüler:innen mit geistigen und körperlichen Behinderungen bauen. Anlass ist die Entscheidung umliegender Kommunen wie Celle und Wolfsburg, die eigenen Förderschulen für die eigenen Einwohner:innen zu reservieren. Erstaunlich: Für den Eilantrag im Schulausschuss sprach – zumindest in Sachen Geistigbehindertenschule – auch der Vorsitzende des Behindertenbeirats. Nur die Schüler:innen mit körperlichen Behinderungen möchte er lieber in die allgemeinen Schulen eingliedern.

Eilantrag im Schulausschuss: Neue Förderschulen für den Landkreis Gifhorn

Waz-online / 05.11.2020

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Drei Kinder arbeiten an einem Tisch im Klassenzimmer. Ein Kind sitzt im Rollstuhl.


Kommunen IV

Wie peinlich war es für Hannover, als die Otfried-Preussler-Schule den Deutschen Schulpreis bekam, ausgerechnet unter anderem für ein Schulbegleitungs-Modell, dass die Stadt vor Monaten gestrichen hatte! Die öffentliche Aufmerksamkeit hat ein Umdenken erzeugt. Das Pool-Modell für Schulbegleitung soll in Kürze wieder funktionieren:

Otfried-Preußler-Schule bekommt hochgelobtes Modell für Schulbegleiter zurück

Hannoversche Allgemeine / 15.11.2020

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Eine Frau und drei Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen sitzen um einen Tisch und arbeiten.


Schule I

Die Windrather Talschule gehört zu den traditionellen „Integrations“-Schulen in Nordrhein-Westfalen. Jetzt kann sie ihren Standort sichern und die Schule ausbauen:

Windrather Talschule wird ausgebaut

Holger Bangert / Westdeutsche Zeitung / 16.11.2020

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Zwei Männer mit Mundschutz stehen vor einem Bagger, einer der beiden hält die Baugenehmigung in die Kamera.


Schule II

In Schwerin gründet sich aus privater Initiative eine freie inklusive Schule mit reformpädagogischem Konzept. Es werden Lehrer:innen gesucht:

Lehrkräfte gesucht

Facebook  / FLO Schule / 25.11.2020

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Acht Menschen stehen lachend vor einem Gebäude, auf dessen Wand ein Bauarbeiter und ein Traktor gemalt ist. Einige haben Spaten in der Hand.


Ausnahme I

Immer noch so selten, dass es einen TV-Bericht wert ist: Ein tauber Schüler auf dem Weg zum Abitur:

Gehörlos durch den Schulalltag: 17-Jähriger besucht normales Gymnasium in Hildesheim

Sat 1 / 02.10.2020

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Jugendlicher mit blonden Haaren und dunkler Brille schaut in die Kamera


Ausnahme II

Die inklusive Bildung für gehörlose Schüler:innen ist ein Kampf um jeden Einzelfall:

Von der Ausnahme zur Regel

Die neue Norm  / 10.11.2020

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Grundschulkind sitzt am Tisch und schreibt


Nachhilfe

Die Freie Universität Bozen gründet ein Kompetenzzentrum für Inklusion im Bildungssystem und setzt dabei auf internationale Vernetzung. Das wäre eine hervorragende Gelegenheit für die deutsche Lehrer:innenbildung, vom langjährigen Erfahrungsschatz der italienischen Schulen zu profitieren:

Neues Kompetenzzentrum für Inklusion im Bildungssystem

rehacare / 19.10.2020

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Professorin Heidrun Demo spricht am Rednerpult


Diskussion

Kann es gelingen, aus Regelschulpädagogik und Sonderschulpädagogik eine neue gemeinsame inklusive Pädagogik zu entwickeln? Oder drückt hier nur eine Richtung der anderen ihren Stempel auf? Die Bildungsjournalistin Brigitte Schumann beschreibt was passiert, wenn der Blick durch die sonderpädagogische Brille überhand nimmt.

Effekte der „Sonderpädagogisierung“

Dr. Brigitte Schumann / bildungsklick / 30.10.2020

Zum Artikel

Stühle auf dem Tisch in einem Klassenzimmer


Erfahrung

Als Alternative für all die ungeplant freie Zeit, die wir in diesem Jahr nicht auf Weihnachtsmärkten verbringen, schaltet Bettina Krück am 4. und 5. Dezember noch einmal alle Interviews ihrer zwei Online-Inklusionskongresse frei. Zugang gibt´s für alle, die sich auf der Homepage anmelden:

Online-Inklusionskongress

Zum Kongress

Logo des Online-Inklusionskongress. Rosa Rechteck mit Aufschrift: 4. & 5.12. alle Interviews gratis.


BTHG begreifen

Bevor Menschen mit Behinderung Unterstützung für ihre Teilhabe bekommen, müssen sie sich durch einen Dschungel von Vorschriften und Zuständigkeiten kämpfen. Dabei werden die Regelungen immer komplizierter, auch durch das derzeit in Umsetzung befindliche Bundesteilhabegesetz (BTHG). Kirsten Ehrhardt von der unabhängigen Beratungsstelle EUTB Heidelberg hat Videos gedreht, die uns allen helfen, das BTHG zu be-greifen:

Das Bundesteilhabegesetz anschaulich erklärt.

Kirsten Erhardt / EUTB Heidelberg

Zum Film

Kirsten Erhardt steht hinter einem Tisch mit vielen bunten Papprollen und spricht in die Kamera.


Bewegung

Inklusion braucht eine starke zivilgesellschaftliche Unterstützung. In Berlin ist es gelungen, eine breites Bündnis zu schmieden. Die Arbeit nimmt nun Fahrt auf:

„Berliner Bündnis für schulische Inklusion“ nimmt Fahrt auf

Eltern beraten Eltern / 12.11.2020

Zum Artikel

Foto von Holztisch mit vielen Stiften von oben fotografiert. Weiße Schrift: Berliner Bündnis für schulische Inklusion


NIPT

Einer nach dem anderen drängen vorgeburtliche Bluttests auf verschiedene Behinderungen auf den Markt. Schon gibt es Länder in Europa, in denen kaum noch Kinder mit Trisomien geboren werden. Die amerikanische Zeitschrift The Atlantic beschreibt, wie die Tests unser Leben und unsere Gesellschaft verändern:

The Last Children of Down Syndrome

Sarah Zhang / The Atlantic / 18.11.2020

Zum Artikel

Eine erwachsene Person legt einem Mädchen mit Down-Syndrom die Hand auf den Kopf.

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