Inklusions-Pegel Oktober 2020
Ausgabe Nr. 10
Neues zum Thema Inklusive Bildung, liebe Leute!
Heute erhalten Sie eine neue Ausgabe unseres Newsletters INKLUSIONS-PEGEL, dem Folgeprojekt unserer Kampagne zum Film DIE KINDER DER UTOPIE. Hier berichten wir jeden Monat, was in Deutschland rund um die Umsetzung von Artikel 24 — inklusive Bildung — der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Dabei versuchen wir einerseits, die Bundesländer und Kommunen als Akteure der Schulpolitik im Blick zu behalten, und andererseits, die Nachrichten nach bundesweiter Relevanz zu filtern.
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Ihr mittendrin e.V.
Ihr kennt unser Leben nicht. Als im März die Kontaktbeschränkungen beschlossen wurden, haben die Entscheider:innen nicht bedacht, dass für viele Familien mit schwerbehinderten Kindern ein ausgeklügeltes Unterstützungssystem zusammenbricht. Dass der Alltag im Lockdown ohne Schule, ohne Familienhelfer:innen, ohne Schulbegleiter:innen, ohne Therapien und ohne Betreuungsangebote für manche Eltern zum 24-Stunden-Job wird. Als wir Elterninitiativen darüber berichtet haben, als die Medien berichtet haben, dachtet Ihr, das seien Einzelfälle.
Ihr kennt unser Leben nicht. Als die Schulen im Mai langsam wieder öffneten, haben wir wieder berichtet. Dass Kinder wegen ihrer Behinderung vom Unterricht ausgeschlossen wurden, weil man sie für infektionsgefährlich hielt. Dass andere Kinder mit Behinderung nur einzelne Tage zur Schule durften. Ihr dachtet, das seien Einzelfälle.
Ihr kennt unser Leben immer noch nicht. Als wir zum neuen Schuljahr berichteten, dass wir unsere Kinder nicht täglich eben mal zur Schule bringen und abholen können, wenn der Schülertransport sie nicht mitnimmt. Weil die Schule zu weit weg ist oder weil wir andere Pflichten haben. Ihr dachtet, das seien nur wenige bedauerliche Einzelfälle. Keine dringend benötigten Therapien mehr in so mancher Förderschule. Kinder mit Behinderung, die auch Ende Oktober noch keinen Tag wieder in der Schule gewesen sind. Alles bedauerlicher Einzelfälle?
Wenn Ihr uns nicht glaubt, dann glaubt wenigstens der Wissenschaft. Die Bertelsmann-Stiftung hat die Erfahrungen von Eltern mit Kindern mit Behinderung in der Corona-Zeit ausgewertet. Ein Drittel der Eltern fühlt sich deutlich überlastet und die Hälfte sieht für ihre Kinder nur noch schlechte Lernmöglichkeiten. Allzu oft kein Lernmaterial, keine Unterstützung, keine selbstverständliche Möglichkeit, Lehrer:innen zu erreichen. Kein Kontakt zu Mitschüler:innen, keine sinnvolle Tagesstruktur. Isolation.
Währenddessen haben sich die Entscheider:innen in der Krise monatelang vor allem mit dem Thema Online-Unterricht beschäftigt. Welch privilegierte Sicht auf Schule! Welche Überraschung, dass es Schüler:innen gibt – ob mit Behinderung oder aus schwierigen Verhältnissen – die mit Online-Unterricht nicht erreicht werden. Welche Überraschung, dass auch das Verteilen von Geräten nicht hilft. Weil die Betroffenen nicht gelernt haben, sie zu benutzen. Weil kein geeignetes oder kein individuell geeignetes digitales Unterrichtsmaterial vorhanden ist. Weil es zu Hause keinen Internetanschluss gibt und vielleicht auch kein eigenes Zimmer. Weil Eltern nicht unterstützen können. Weil Schüler:innen zum Lernen ihre Lehrer:innen brauchen – und die Mitschüler:innen.
Es wird Zeit, dass Entscheider:innen mehr lernen über die Kinder und Jugendlichen, die unsere Schulen besuchen. Über die vielen Schüler:innen, die auch in ganz normalen Zeiten abgehängt, nicht eingebunden, nicht an Bildung herangeführt werden. Weil sie anders sind, als die Entscheider:innen sich Schülerinnen und Schüler vorstellen. Das wäre eine Basis für gute Schulpolitik.
Die Themen im Oktober
Corona I
Die Bertelsmann-Stiftung befragt regelmäßig eine repräsentative Auswahl von Eltern zu schulischen Themen. Darunter ist auch eine Auswahl von Eltern mit Kindern mit Behinderung. Somit konnten jetzt auch auf einer soliden Grundlage die Erfahrungen in der Corona-Krise erhoben werden:
Im Lichte von Corona: Eltern von Kindern mit Förderbedarf wünschen sich mehr Unterstützung durch Schulen und Politik
Bertelsmann Stiftung / 08.10.2020
Corona II
Mehr als ein Drittel der von der Bertelsmann-Stiftung befragten Eltern von Kindern mit Förderbedarf klagte darin über Stress und Überlastung. Die Lernmöglichkeiten ihres Kindes während der Schulschließungen bewertete mehr als die Hälfte dieser Eltern als schlecht. Welche Belastungen hinter diesen Zahlen stehen, sieht man nur im Einzelfall:
Zurück in die Igelklasse
Zeit online / Ines Schipperges / 13.10.2020
Corona III
Um das Recht auf Bildung von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise zu gewährleisten, fordert die Lebenshilfe in ihrem Positionspapier vor allem den Einsatz von Schulbegleitern zu Hause. Wir hätten da ja noch ein paar andere Vorschläge…
Ulla Schmidt: Teilhabe darf in Corona-Zeiten nicht auf der Strecke bleiben
Lebenshilfe / 30.09.2020
Deutsche Schulpreis-Panne
Da freut man sich in Hannover wie Bolle, dass der Deutsche Schulpreis in diesem Jahr in die Hauptstadt der Niedersachsen gegangen ist – und dann kommt DAS heraus: Die Schule ist auch für ein Modell multiprofessioneller Teamarbeit ausgezeichnet worden, das die Stadt Hannover leider, leider inzwischen zerschlagen hatte. Seit mehr als einem Jahr gibt es das „Pool-Modell“ für Schulbegleitung an der Otfried-Preussler-Grundschule schon nicht mehr. Die Stadt hatte es für die Schulbegleiter, die sie über das Jugendamt finanziert, bereits im Sommer 2019 aufgekündigt. Diese Schulbegleiter waren fortan wieder direkt einzelnen Schüler:innen zugeordnet. Die Schulleitung hatte daraufhin ihrerseits das Poolmodell auch für jene Schulbegleiter:innen beendet, die von der Region finanziert werden – weil sie zwei unterschiedliche Modelle in ihrer Schule ablehnte. Gewiss auch dank der großen öffentlichen Aufmerksamkeit zeichnet sich jetzt eine Lösung ab:
Posse um ausgezeichnete Schule: Können Weil und Tonne helfen?
Hannoversche Allgemeine / 26.10.2020
Zum Artikel (Paywall)
Auch der Norddeutsche Rundfunk berichtete:
Hannover: Grundschule will Inklusionskonzept erhalten
NDR / Hallo Niedersachsen / 07.10.2020
Deutschland I
Nein, die deutschen Bundesländer beharren auch nach den neuesten Beschlüssen der Kultusministerkonferenz auf ihren „regionalen Eigenheiten“. Ein geforderter Staatsvertrag, der Schule in Deutschland einheitlicher machen sollte, ist nicht zustande gekommen. Stattdessen gibt es nun eine „Ländervereinbarung“, die nicht von den Länderparlamenten verabschiedet wird und aus der jedes Land jederzeit wieder austreten kann. Auch einem „Nationalen Bildungsrat“ haben die Kultusminister:innen eine Absage erteilt. Eingerichtet wird nur eine Kommission, die Erkenntnisse der pädagogischen Wissenschaft schneller den Weg in die Praxis bahnen soll.
Und was sagt die Ländervereinbarung zur inklusiven Bildung? Hier formulieren die Kultusminister:innen so windelweich, dass das Papier einer Absage an die UN-Behindertenrechtskonvention gleichkommt: In ihrem Papier gibt es kein Recht auf inklusive Bildung, keine Verpflichtung oder wenigsten Empfehlung zum Auf- und Ausbau der inklusiven Bildung. Worauf man sich aber als bundesweiten Standard einigen konnte: die Option Förderschule.
Etwas mehr gemeinsam
Süddeutsche / 15.10.2020 / Paul Munzinger
Deutschland II
Deutschlands Auslandsradio, die Deutsche Welle, informiert Menschen in aller Welt über Geschehnisse und Diskussionen in unserem Land. Eine ganze Podcast-Reihe unter dem Titel „Echt behindert“ beschäftigt sich in diesem Sinne mit vielen Themen rund um Inklusion und Barrierefreiheit. Die aktuelle Ausgabe versucht, Ordnung in die verwirrenden Stimmen zur Inklusion im deutschen Schulsystem zu bringen:
Podcast.
Echt behindert! Eine Schule für Alle?
Deutsche Welle / Matthias Klaus & Eva Maria Thoms / 15.10.2020
Deutschland III
Bilden die verhärteten parteipolitischen Fronten in der Schulpolitik überhaupt noch den Willen der Bürger:innen ab? Brauchen wir in der Schulpolitik wie in anderen politischen Fragen eine intensivere Bürger:innenbeteiligung, um zukunftsfähige gesellschaftliche Entscheidungen treffen zu können? Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bringt sogenannte Bürgerräte als mögliches Mittel demokratischer Politik ins Gespräch. Die Montag-Stiftung Jugend und Gesellschaft hat sich jetzt aufgemacht, einen solchen Bürgerrat in Sachen Bildung und Lernen – zunächst online – zu organisieren. Entdecken Sie die Schulpolitiker:in in sich und diskutieren Sie mit!
Welche Bildung für die Zukunft?
Bürgerrat Bildung und Lernen
Debatte I
Ein Bündnis von Gewerkschaft, Schul- und Bildungsverbänden zieht nach einem halben Jahr Corona-Krise Bilanz, wie unser Schulsystem sich unter Pandemiebedingungen geschlagen hat – und fordert in einem Perspektivenpapier grundlegende Reformen:
Neue Wege – statt weiter wie bisher!
GEW
Debatte II
Auf Initiative von Antonio Florio von Selbstbestimmt Leben Ludwigsburg hat in Baden-Württemberg eine Online-Konferenz über inklusive Bildung stattgefunden:
Inklusion macht alles leichter
Ottmar Miles-Paul / kobinet-nachrichten / 30.09.2020
Debatte III
Auch in Sachsen wird in der kommenden Woche online über inklusive Bildung diskutiert, organisiert von der Akademie der evangelischen Landeskirche.
„Erfolgreich exkludieren.“ Weshalb Inklusion als anstrengend empfunden wird
Evangelische Akademie Sachsen
Modellprojekt I
Wenn Kinder wegen ihrer Behinderung nicht nur die Dorfschule verlassen sollen, sondern gleich die ganze Insel, ist Exklusion nicht mehr zu übersehen. Um das zu beenden, hat die Insel Rügen vor Jahren begonnen, ihre Schulen inklusiv zu entwickeln:
Zehn Jahre Inklusionsmodell PISaR auf Rügen: „Ergebnisse sprechen für sich“
Ostsee-Zeitung / 26.10.2020
Zum Artikel (Paywall)
Modellprojekt II
Vor fünf Jahren haben sich Teile der Stadt Frankfurt zur Modellregion zusammengeschlossen mit dem Ziel, dass alle Kinder mit Behinderung die Möglichkeit bekommen sollten, allgemeine Schulen zu besuchen. Jetzt wurde Bilanz gezogen:
Gemeinsam lernen statt ausgrenzen
Sandra Busch / Frankfurter Rundschau / 28.09.2020
Einfach machen…
Ganz ohne Modellprojekt kommt die Kommune Altdorf im Nürnberger Land bei der Inklusion voran. Seit im vergangenen Jahr Louis eingeschult wurde, hat die Grundschule einen Aufzug. In diesem Jahr wurde die Schule mit der Einschulung von Justus auch ein Platz für hörbehinderte Kinder:
So geht Inklusion
Alex Blinten / Nürnberger Land / 30.09.2020
Förderschule I
Immer wieder wird in die Diskussion getragen, inklusive Bildung zu gewährleisten, indem man Förderschulen für Schüler:innen ohne Behinderung öffnet. Das hört sich einfach an. Ist es aber nicht. Diese Leipziger Schule widmet sich der Aufgabe mit Herzblut. Aber sie muss von den Schüler:innen ohne Behinderung Schulgeld nehmen:
Leipziger Schule integriert Kinder ohne Behinderung in Förderklassen
MDR / Selbstbestimmt / 12.10.2020
Förderschule II
In Königsbrunn sieht die sogenannte umgekehrte Inklusion in der ersten „Offenen Klasse“ der Körperbehindertenschule so aus, dass ganze drei Kinder ohne Behinderung mit zehn Kindern mit Behinderung lernen:
Wie die Fritz-Felsenstein-Schule umgekehrte Inklusion betreibt
Augsburger Allgemeine / 15.10.2020
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Knappe Mittel I
Für die Förderschule im bayerischen Illertissen, die Schüler:innen mit Lern- und Entwicklungsstörungen unterrichtet – soll es ein neues Gebäude geben. Damit der Rückgang der Schüler:innenzahlen an der Förderschule gestoppt werde, sagt die kommunale Politik. Ein millionenteures Statement gegen die UN-Behindertenrechtskonvention:
Brauchen 21 Schüler ein millionenteures Gebäude?
Ronald Hinzpeter / Augsburger Allgemeine / 23.10.2020
Knappe Mittel II
Der Landkreis Havelland finanziert seiner Förderschule in Rathenow wegen „steigender Schülerzahlen“ einen Erweiterungsbau. Warum immer mehr Schüler:innen den Stempel „geistige Behinderung“ tragen, fragt der Kreis nicht:
Landkreis Havelland investiert in Erweiterung der Förderschule „Spektrum“ in Rathenow
René Wernitz / MOZ / 01.10.2020
Knappe Mittel III
In Halle hat sich die Schüler:innenzahl der Sprachheilschule in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. Warum die Zahl der sprachbehinderten Kinder steigt, fragt keiner. Aber jetzt werden zusätzliche Räume angemietet:
Stadt will zusätzliche Etagen mieten. Mehr Platz für die Sprachheilschule
Denny Kleindienst / Mitteldeutsche Zeitung / 09.10.2020
Bewegung
Im holsteinischen Segeberg hat sich eine neue Elterninitiative gegründet. Gesucht werden weitere Eltern von Kindern mit Autismus:
"Unsere Kinder passen in kein Raster"
Nadine Materne / Kieler Nachrichten / 18.10.2020
Zum Artikel (Paywall)
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